Merkel in der Mangel
Wer rechtsbürgerliche Widersacher wie Merkel hat, braucht die Opposition nicht fürchten
Konservatives Scherbengericht über die Kanzlerin: überschätzt.
Über die Kanzlerin ist drei Monate vor der Wahl ein Buch erschienen, in dem 22 Autoren das Merkel-Phänomen erklären. Die Bilanz aus dem liberal-konservativen intellektuellen Milieu fällt vernichtend aus.
Was FAZ-Redakteuer Philip Plickert da unter der Überschrift »Merkel, eine kritische Bilanz« am Montag in Berlin der Öffentlichkeit vorlegte, wäre treffender als Scherbengericht angekündigt. Die bisherigen zwölf Jahre der Kanzlerin werden von 22 Professoren und Publizisten beleuchtet – vor allem ihre Fehlleistungen, Unterlassungssünden, Irrtümer. Eine Wahlempfehlung sieht anders aus.
Herausgeber Plickert kommt schon bei der Ankündigung der auf 250 Seiten ausgedehnten Fehleranalyse zum wenig wohlwollenden Schluss, dass Angela Merkel nicht jene Lichtgestalt
»Je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligenschein, desto mehr schrumpft die Riesengestalt.« Philip Plickert
ist, als die sie vielen gilt, sondern ein Scheinriese, der bei näherer Betrachtung mächtig schrumpft. »Eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin«, so der FAZ-Journalist unter Verweis auf planlose, undurchdachte Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden.
Das alles könnte man freilich auch mit einer linken Sicht unterschreiben – würden die Autoren, die ausdrücklich im liberal-konservativen intellektuellen Milieu verortet werden, nicht ihren Fokus vor allem auf Momente der Ära Merkel richten, als die kühle Kanzlerin ausnahmsweise menschlich reagierte: in der Eurofinanzkrise, bei der Energiewende nach Fukushima und bei der – wohlgemerkt anfänglichen – Flüchtlingspolitik im Sommer 2015. Was da als »differenzierte, ehrliche Analyse« angekündigt ist, gerät zur schonungslosen Abrechnung.
Kopflos habe Merkel reagiert, gar nicht im Sinne ihres Images, als Naturwissenschaftlerin die Dinge vom Ende her zu denken, urteilt Plickert. Und listet auf, dass sich Deutschland auf energiepolitischem Irrweg mit null klimapolitischem Effekt aber Milliardenkosten befindet, in der Eurokrise Griechenland zu Tode gerettet habe und in der Flüchtlingspolitik einen Sonderweg einschlug, der zu Vertrauensverlust daheim und zur Spaltung Europas geführt habe und Hunderte Milliarden Euro kosten werde.
Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (immer noch SPD) legt da noch eine Schippe drauf und rechnet mit einer Billion. In der sattsam bekannten Art der Aufrechnung von Geburtenraten im arabischen Raum und in Europa blieb er bei der Buchvorstellung seiner alten These vom sich abschaffenden Deutschland treu und nannte es eine Überlebensfrage für das Modell Europa, eine ungebremste Einwanderung nicht zuzulassen. Wer das nicht erkenne, ist Sarrazin sicher, gebe die »Interessen des eigenen Volkes kampflos auf«.
So erfährt Herausgeber Plickert mit seinem vernichtenden Urteil in vielen der von ihm zusammengetragenen Beiträge munteren Beistand – bisweilen in einer Deutlichkeit, die bislang wohl noch keinem amtierenden Kanzler in der Bundesrepublik mitten im Wahlkampf zuteil wurde. Da ist vom »Vatermord« an Helmut Kohl, der Verschiebung der Union »weit nach links«, der »Entfrem- dung« weiter Teile des klassischen Bürgertums von der Partei mit dem »hohlen C« genauso die Rede, wie von autoritärem Politikstil, verweigerten Debatten, Beliebigkeit und ideologischer Flexibilität. Und freilich von der logischen Folge all dessen: der Etablierung der AfD am rechten Rand. Letztlich wurde zwischen zwei Buchdeckel gepresst, was Merkel angesichts des tatsächlichen Todes ihres einstigen Ziehvaters ohnehin seit Freitag in Medien wie in ihrer CDU als Wiedervorlage erreicht hat.
Und selbst auf der vermeintlichen Habenseite der Kanzlerin sind ihre konservativen Kritiker nicht eine Spur gnädig. Die deutsche vergleichsweise gute ökonomische und arbeitsmarktpolitische Situation im europäischen Maßstab? Die verdankt sie ihrer Vorgängerregierung Gerhard Schröder und dessen Agenda 2010. Die Erfolge im Export? Verdienst der Wirtschaft. Die Schwarze Null? Verdankt sich sprudelnden Steuereinnahmen.
Etwas moderater versuchte sich der Mainzer Zeitgeschichtler Professor Andreas Rödder. Kunststück, der Mann ist CDU-Mitglied, war unlängst erst im Schattenkabinett von Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz. Er hat durch Befragungen herausgefunden, dass Merkels Persönlichkeit und ihr Politikstil ihren Erfolg begründen – vermisst aber bei ihr auch politische Konstanten, Werte und Konsistenz. »Das Phänomen Merkel repräsentiert die Entwicklung einer Gesellschaft im Bewusstsein historischer Schuld und den Willen zum Guten«, sagte er. Merkel bediene die deutsche Sehnsucht nach Harmonie. Das nun vorgelegte Buch stehe für Debatte und nicht für Alternativlosigkeit, schickt Rödder noch hinterher.
Das ist ein Seitenhieb auf Merkel. Und irgendwie auch auf die Autoren, die sich ja gerade daran reiben, dass auch in diesem Herbst die ewige Kanzlerin gar keine schlechten Aussichten hat weiterzuregieren.