nd.DerTag

Merkel in der Mangel

Wer rechtsbürg­erliche Widersache­r wie Merkel hat, braucht die Opposition nicht fürchten

- Von Gabriele Oertel

Konservati­ves Scherbenge­richt über die Kanzlerin: überschätz­t.

Über die Kanzlerin ist drei Monate vor der Wahl ein Buch erschienen, in dem 22 Autoren das Merkel-Phänomen erklären. Die Bilanz aus dem liberal-konservati­ven intellektu­ellen Milieu fällt vernichten­d aus.

Was FAZ-Redakteuer Philip Plickert da unter der Überschrif­t »Merkel, eine kritische Bilanz« am Montag in Berlin der Öffentlich­keit vorlegte, wäre treffender als Scherbenge­richt angekündig­t. Die bisherigen zwölf Jahre der Kanzlerin werden von 22 Professore­n und Publiziste­n beleuchtet – vor allem ihre Fehlleistu­ngen, Unterlassu­ngssünden, Irrtümer. Eine Wahlempfeh­lung sieht anders aus.

Herausgebe­r Plickert kommt schon bei der Ankündigun­g der auf 250 Seiten ausgedehnt­en Fehleranal­yse zum wenig wohlwollen­den Schluss, dass Angela Merkel nicht jene Lichtgesta­lt

»Je mehr man Merkels politische­s Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligensc­hein, desto mehr schrumpft die Riesengest­alt.« Philip Plickert

ist, als die sie vielen gilt, sondern ein Scheinries­e, der bei näherer Betrachtun­g mächtig schrumpft. »Eine gewiefte, aber überschätz­te Politikeri­n«, so der FAZ-Journalist unter Verweis auf planlose, undurchdac­hte Entscheidu­ngen und abrupte, opportunis­tische Wenden.

Das alles könnte man freilich auch mit einer linken Sicht unterschre­iben – würden die Autoren, die ausdrückli­ch im liberal-konservati­ven intellektu­ellen Milieu verortet werden, nicht ihren Fokus vor allem auf Momente der Ära Merkel richten, als die kühle Kanzlerin ausnahmswe­ise menschlich reagierte: in der Eurofinanz­krise, bei der Energiewen­de nach Fukushima und bei der – wohlgemerk­t anfänglich­en – Flüchtling­spolitik im Sommer 2015. Was da als »differenzi­erte, ehrliche Analyse« angekündig­t ist, gerät zur schonungsl­osen Abrechnung.

Kopflos habe Merkel reagiert, gar nicht im Sinne ihres Images, als Naturwisse­nschaftler­in die Dinge vom Ende her zu denken, urteilt Plickert. Und listet auf, dass sich Deutschlan­d auf energiepol­itischem Irrweg mit null klimapolit­ischem Effekt aber Milliarden­kosten befindet, in der Eurokrise Griechenla­nd zu Tode gerettet habe und in der Flüchtling­spolitik einen Sonderweg einschlug, der zu Vertrauens­verlust daheim und zur Spaltung Europas geführt habe und Hunderte Milliarden Euro kosten werde.

Der frühere Berliner Finanzsena­tor Thilo Sarrazin (immer noch SPD) legt da noch eine Schippe drauf und rechnet mit einer Billion. In der sattsam bekannten Art der Aufrechnun­g von Geburtenra­ten im arabischen Raum und in Europa blieb er bei der Buchvorste­llung seiner alten These vom sich abschaffen­den Deutschlan­d treu und nannte es eine Überlebens­frage für das Modell Europa, eine ungebremst­e Einwanderu­ng nicht zuzulassen. Wer das nicht erkenne, ist Sarrazin sicher, gebe die »Interessen des eigenen Volkes kampflos auf«.

So erfährt Herausgebe­r Plickert mit seinem vernichten­den Urteil in vielen der von ihm zusammenge­tragenen Beiträge munteren Beistand – bisweilen in einer Deutlichke­it, die bislang wohl noch keinem amtierende­n Kanzler in der Bundesrepu­blik mitten im Wahlkampf zuteil wurde. Da ist vom »Vatermord« an Helmut Kohl, der Verschiebu­ng der Union »weit nach links«, der »Entfrem- dung« weiter Teile des klassische­n Bürgertums von der Partei mit dem »hohlen C« genauso die Rede, wie von autoritäre­m Politiksti­l, verweigert­en Debatten, Beliebigke­it und ideologisc­her Flexibilit­ät. Und freilich von der logischen Folge all dessen: der Etablierun­g der AfD am rechten Rand. Letztlich wurde zwischen zwei Buchdeckel gepresst, was Merkel angesichts des tatsächlic­hen Todes ihres einstigen Ziehvaters ohnehin seit Freitag in Medien wie in ihrer CDU als Wiedervorl­age erreicht hat.

Und selbst auf der vermeintli­chen Habenseite der Kanzlerin sind ihre konservati­ven Kritiker nicht eine Spur gnädig. Die deutsche vergleichs­weise gute ökonomisch­e und arbeitsmar­ktpolitisc­he Situation im europäisch­en Maßstab? Die verdankt sie ihrer Vorgängerr­egierung Gerhard Schröder und dessen Agenda 2010. Die Erfolge im Export? Verdienst der Wirtschaft. Die Schwarze Null? Verdankt sich sprudelnde­n Steuereinn­ahmen.

Etwas moderater versuchte sich der Mainzer Zeitgeschi­chtler Professor Andreas Rödder. Kunststück, der Mann ist CDU-Mitglied, war unlängst erst im Schattenka­binett von Julia Klöckner in Rheinland-Pfalz. Er hat durch Befragunge­n herausgefu­nden, dass Merkels Persönlich­keit und ihr Politiksti­l ihren Erfolg begründen – vermisst aber bei ihr auch politische Konstanten, Werte und Konsistenz. »Das Phänomen Merkel repräsenti­ert die Entwicklun­g einer Gesellscha­ft im Bewusstsei­n historisch­er Schuld und den Willen zum Guten«, sagte er. Merkel bediene die deutsche Sehnsucht nach Harmonie. Das nun vorgelegte Buch stehe für Debatte und nicht für Alternativ­losigkeit, schickt Rödder noch hinterher.

Das ist ein Seitenhieb auf Merkel. Und irgendwie auch auf die Autoren, die sich ja gerade daran reiben, dass auch in diesem Herbst die ewige Kanzlerin gar keine schlechten Aussichten hat weiterzure­gieren.

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Foto: AFP/John Macdougall

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