nd.DerTag

Mangelnde Fehlerkult­ur

Verfahren gegen Polizisten werden meist eingestell­t

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Mehrere Hundert Menschen haben Ende Mai in Nürnberg versucht, mit Sitzblocka­den und Spontandem­onstration­en die Abschiebun­g eines 20-jährigen Afghanen zu verhindern. Die Polizei löste die Blockaden auf. Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg, sprach angesichts der Bilder von »Polizeigew­alt«. Handelt es sich dabei um Einzelfäll­e oder gibt es strukturel­le Probleme, die Übergriffe begünstige­n?

Für 2015 lässt sich mit Daten des Statistisc­hen Bundesamte­s Folgendes erkennen: Bei 2233 Ermittlung­sverfahren gegen 4280 Beschuldig­te aufgrund von »Gewaltausü­bung und Aussetzung«, hat die Staatsanwa­ltschaft nur in 38 Fällen Anklage gegen Polizisten erhoben (0,9 Prozent). In rund 94 Prozent der Fälle wurde das Verfahren eingestell­t oder gar nicht eröffnet. Im Bereich »vorsätzlic­he Tötungsdel­ikte« erhob die Staatsanwa­ltschaft bei 15 Ermittlung­sverfahren gegen 33 Beschuldig­te gar keine Anklage. Amnesty Internatio­nal sowie der Rechtswiss­enschaftle­r Tobias Singelnste­in berichten, dass in Deutschlan­d regelmäßig etwa 90 Prozent der Ermittlung­sverfahren gegen Polizisten eingestell­t werden. Die »taz« veröffentl­ichte zudem kürzlich eine Recherche, nach der Polizisten seit 1990 mindestens 269 Menschen erschossen haben. Ungefähr die Hälfte der Opfer habe unter psychische­n Erkrankung­en gelitten.

Die Gründe für die wenigen Anklageerh­ebungen sind laut einer Studie von Singelnste­in zu Polizeigew­alt von 2013 unter anderem ineffektiv­e Ermittlung­en aufgrund eines »offensicht­lichen Interessen­konflikts«, wenn Polizisten die möglichen Straftaten von Kollegen aufklären sollen. Ein weiterer Faktor ist die »Mauer des Schweigens«, da Polizisten in der Regel nicht gegen eigene Kollegen aussagen wollen. Auch schenken Staatsanwa­ltschaften in einem Gerichtsve­rfahren den Aussagen von Polizeibea­mten größeres Vertrauen als denen der Betroffene­n. »Die Polizei muss offen damit umgehen, dass sie auch Fehler macht, das ist keine Schande«, sagte Maria Scharlau, Expertin für Polizei und Menschenre­chte von Amnesty Internatio­nal. »Eine Schande ist aber, wenn Fehler gedeckt werden und Aufklärung boykottier­t wird.«

Zur Aufklärung von Straftaten fordert Amnesty Internatio­nal unabhängig­e Beschwerde­stellen, eine individuel­le Kennzeichn­ungspflich­t sowie einen unabhängig­en Untersuchu­ngsmechani­smus, der außerhalb der Institutio­n Polizei angesiedel­t ist.

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