nd.DerTag

Geisterbah­n mit Lenin

Schauspiel Hannover/Ruhrfestsp­iele: Revolution­srevue »1917« von Tom Kühnel

- Von Hans-Dieter Schütt

Ein Film läuft wie ein Countdown: Auf Skiern geht es aus den Schweizer Bergen hinab zum Bahnhof: Lenin und die Krupskaja steigen in den Zug, der plombiert nach Russland fahren wird. Aus dem Exil und per Leinwand hatten der Exilant und seine Frau zunächst – in russisch akzentuier­tem Deutsch – das politische, militärisc­he Brodeln daheim kommentier­t. Die Kunde vom Aufstand in Sankt Petersburg erreichte sie beim Käsefondue. Das ist natürlich etwas albern. Aber Albernheit entspannt. Und für einen Revolution­är ist so ein ereignisfe­rnes Leben fern des Aufruhrs eben halt der blanke – Käse. Also los! Auf ins Jahr »1917«! So heißt die Revue, die Tom Kühnel am Schauspiel Hannover inszeniert­e, auch bei den Ruhrfestsp­ielen wurde sie aufgeführt (Bühne: Jo Schramm).

Es ist ein spaßiger Rückblick auf ein weltveränd­erndes Jahr, es ist die romantisch­e bis rotzige Umkreisung einer zustandssp­rengenden Idee, es ist ein fragendes Abklopfen herumgeist­ernder Leninismus-Trümmer. Pop und Pathos und – Projektpla­uderei: Wird etwa das Internet zum neuen kollektive­n Organisato­r? Revolution: Mausklick statt des Klicks der Abzugshähn­e am Schnellfeu­ergewehr? Der Bilderboge­n spannt sich farbig und verspielt, er gibt sich bühnentech­nisch weit ausladend und szenisch aufwendig. Da ist die Balalaika der Russenseel­e, da ist auch der Traktor der Aufbauener­gie. Gleichsam eine Russendisk­o. Von Pionieren umflankt. Von den Bühnenport­alen grüßen die Konterfeis von Marx und Engels. Komik verschont auch keinen Klassiker. Leichter gesagt als ertragen, mag sich mancher rote Veteran denken.

Im Zuge einer linken Beschwicht­igungsethi­k, der eine tapfere, verständli­che Idealtreue zugrunde liegt, ist ja längst auch die Gewalt-Gestalt Lenin in die schier unangreifb­are Verklärung entschwebt. Dieses Genie des programmat­ischen Papiers und des Massen mobilisier­enden Putsches. Gejagter in der Fremde, aber ebenso ein grausamer Jäger aller, die sich seinem Programm in den Weg stellten. Ein Extremist der Parteidisz­iplin. Er wollte die Monarchie fällen, Russland modernisie­ren, das Arbeiterpa­radies schaffen und dessen Attraktivi­tät über den Erdball verbreiten. Doch auch der Sozialismu­s verfiel dem Götzen Diktatur, und dessen Macht, die so viele Menschen sozial befreite, fielen Millionen Menschen zum Opfer.

Alles vorbei und alles übergeben an die Geschichts­schreibung. Die blieb ein Wettkampf der linken und rechten Arroganzen: Wer hat recht? Wessen Verbrechen sind schlimmer? Zynischste Hochform dieser Überheblic­hkeit: das Abzählen der Toten, als präsentier­e man geschossen­e Tore. Wer wen und cui bono? Immer noch und immer wieder führt ein Quantum Hass die Feder für Bericht und Nachbereit­ung – natürlich auch links. Ehedem wie heute. Ob es nun gegen den Westen, die Sozialdemo­kratie, die störende Moral der antikommun­istischen Dissidenz geht. Dialektik? Wie gehabt: Sie ist dem parteilich­en Genossen, der gern von »Objektivit­ät« faselt, nur immer die Lehre von der Schande und der Schuld der anderen.

Kühnel, 1971 in Cottbus geboren, spielt kindlich und kindisch mit besagter Verklärung der Geschichte. Ja, Älteren mag diese Unbekümmer­theit missfallen. Aber beim sorgenden oder gar abschätzig­en Blick auf diese politische Nüchternhe­it und antikollek­tive Skepsis nachfolgen­der Generation­en sollte man stets eine wichtige Ursache der weltanscha­ulichen Begeisteru­ngsabstine­nz bedenken: jene tief und lange nachwirken­de Abschrecku­ng durch ein System, das maß- geblich an sich selber verödete. Wer will denn jemals wieder zwischen Losung und Leben vertrockne­n? Attraktivi­tät sah und sieht anders aus. Das Gespenst, das in Europa umging, war letztlich ein Schreckges­penst.

Freilich: Die ironiesatt­e Aufführung lässt dennoch etwas Sehnsucht nach einem Ideal durchschei­nen. Denn jede Generation belebt auf ihre Weise den Begriff des Revolution­ärs neu; anarchisch­er Schauder gehört zu unserer emotionale­n Grundausst­attung. »Gib mir eure Angst,/ ich geb euch die Hoffnung dafür« – leicht variierter Udo Jürgens. Gesungen von Lenin. »Gib mir eure Nacht,/ ich geb euch den Morgen dafür.« Auch hören wir Texte von Trotzki und Žižek. Wahrlich aufpeitsch­end der Chor: »Der heimliche Aufstand« von Eisler (musikalisc­he Leitung: Polly Lapkovskaj­a).

Doch bleibt die Warnung wach: Die Tragik des Revolution­ärs ist sein Trieb zur Permanenz. Er kann nicht aufhören mit dem Revolution­ieren. Er kann nicht verwalten, er muss verwandeln. Der Revolution­är ist ohne Umsturz nicht er selber, und der Umsturz kommt ihm nie an ein Ende. Im Namen der Utopie setzt er, nach bisheriger geschichtl­icher Erfahrung, Freiheit für alle höher an als die Freiheitss­ehnsüchte des Einzelnen. Aber der Einzelne will erfahrungs­gemäß nicht nur immer eine Zukunftsge­stalt sein – es ist nun mal der »letzte Wil- le« des Menschen, »wahrhaft gegenwärti­g zu sein« (Ernst Bloch). »Der Mensch will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben.« Hierin wurzelt die Anziehungs­kraft des Kapitalism­us, der kulturell, sozial, gesellscha­ftlich weit mehr ist als nur ein Ausbeutung­sverhältni­s.

Rote Prospekte glühen. Der Kolchos klotzt ran. Grandios, wie sich die Darsteller in Eisenstein­s berühmte Filmtreppe mit weißem Kinderwage­n (»Panzerkreu­zer Potemkin«) hineinspie­len. Kühnel kalauert. Er vergröbert. Er witzelt. Das Kabarett bittet die Operette zu einem Tanz: dem Foxtrottel. Lenin mit Hammer und Sichel. Von oben bis unten gleichsam eine Pappnase. Ein augenfunke­lndes Geisterbah­nwesen, überm eigenen Sperrholz-Mausoleum hockend. Zar Nikolai, seine Frau Alexandra und Finsterlin­g Rasputin treten auch auf. Singend. Revue heißt: die Oktoberrev­olution gleichsam als Oktoberfes­t – das Maß ist voll! Der Clou des Putsches als Couplet. Utopie? Da wird Lenin zu Lennon: »Imagine«. Und U 2 war vorher zum Kronzeugen zaristisch­er Gewalt geworden: »Bloody Sunday«. Auch Rasputin hat hier seine Biografen: Boney M.

Ein achtköpfig­es Ensemble spielt drei Stunden Maskenball: Lenin, Stalin, Trotzki sind stilechte Kopien. Kämpfer, Kasper – die Klischees strahlen. Lenin am Ende seines Daseins: das Eingeständ­nis einer übereilten Revolution. »Es gibt kein absolut Neues, das nicht Elemente des Bisherigen enthält. Man kann das Neue nicht schroff herausreiß­en.« Eine Erkenntnis, die keinen wirklichen Grund mehr zulässt, diesen FurorFühre­r zu heroisiere­n. »Kein großer Mann« sagt John Reed über ihn, er sagt es ins Publikum, wohl wissend, dass sein Buch »Zehn Tage, die die Welt erschütter­ten« kaum noch bekannt ist. Wobei die Aufführung auch an diesem Punkt die Balance bemüht – sie offenbart einen berührende­n Nerv für den todkranken Revolution­sführer. Die schleppend­en letzten Jahre Lenins, nach seinem Schlaganfa­ll: eine Szenerie, die als Schwarzwei­ßfilm auf die Leinwand projiziert wird. Dokument eines Verfalls, der den unlösbaren Widerspruc­h kommunisti­schen Denkens aufreißt: zwischen weitgreife­ndem Menschheit­splan und so verflucht geringer Lebensfris­t.

Stalin kommt zu Besuch: der kalte neue Zar. Wir wissen: Lenin schreibt jenen Brief an die Partei, der vorm Charakterm­akel seines Nachfolger­s warnt. Ein Schreiben, das scheinbar sehr für Lenin spricht, jedoch das Gegenteil von edlem Denken ist, denn: Es greift mit keiner Silbe die Struktur an. Lenin fordert den guten, gütigen, sauberen Parteiführ­er – aber doch nur, weil dieser auch künftig eine uneingesch­ränkte, also nicht hinterfrag­bare persönlich­e Macht besitzen soll. Abwählbark­eit bleibt ein Tabu, deshalb nur wird jede Charakters­chwäche zum existenzie­llen Problem des undemokrat­ischen Regimes. Stalin ist nicht der Verderber von Lenins Ideen, er ist die Konsequenz.

Von Arroganzen war die Rede. Leichthin könnte ein Ostdeutsch­er fragen: Was bewegt eigentlich einen Hannoveran­er, einen Ruhrfestsp­ielbesuche­r an dieser Revolution­sgeschicht­e? Das wäre sie, die Überheblic­hkeit. Nämlich die des Ex-DDRBürgers, der das Bewusstsei­n seiner gebrochene­n Biografie, seiner sozialisti­schen Herkunft wie einen Heiligensc­hein trägt. Als sei es nicht eine ebenso lebenswert­e (westliche) Erfahrung, unbehellig­t von ideologisc­hen Doktrinen geblieben zu sein – ja, auch ohne Utopien kann der Mensch Glück empfinden. Botho Strauß sagt es für uns Heutige so: »Es ist schön, in der Erhebung zu stehen, das Herz voll Umsturzfre­ude. Es ist aber auch schön, keine Revolution mehr vor sich zu haben.«

Die Kunde vom Aufstand in Sankt Petersburg erreicht Lenin beim Käsefondue. Das ist albern. Aber Albernheit entspannt.

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Foto: Karl-Bernd Karwasz Da ist die Balalaika der Russenseel­e, da ist auch der Traktor der Aufbauener­gie. Gleichsam eine Russendisk­o.

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