Eine Zukunft ohne Hitler
Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot« erzählt von Kriegsgefangenen, die im Westen als Vaterlandsverräter galten
Heinrich Gerlach beginnt seinen Bericht »Odyssee in Rot« mit dem Aufklärungsflug eines deutschen Flugzeugs über Stalingrad. Es ist der Tag, der in den Geschichtsbüchern als letzter Tag der Schlacht um Stalingrad eingetragen ist, der 2. Februar 1943. Auf der ersten Seite findet der Leser Sätze wie diesen: »Wenig Ortschaften duldet der unwirtliche Raum, kleine Häusergewürfel, zaghaft und gleichsam wie auf Probe hingestreut in das unendliche Weiß.« Diese und andere Sätze lassen spüren, dass der Autor ein Gefühl für Sprache besitzt.
Hat Heinrich Gerlach mit »Odyssee in Rot« einen Roman geschrieben oder einen Bericht? Gerade hat der Leser aus der Kanzel des Aufklärungsflugzeugs einen Blick auf das Grab von etwa 150 000 Deutschen und einer halben Million Russen geworfen. Vieles in Gerlachs Buch klingt deshalb nach Bericht, nach illustrierter Geschichte. Trotzdem vermag es der Autor, sich mit erzählerischen Vermögen vom Geschichtsbuch abzusetzen. Er hat offensichtlich genau das geschrieben, was er wollte.
Was wollte er denn schreiben? Die Geschichte derer, die nach der Niederlage von Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft gekommen sind. Darunter sind Soldaten und Offiziere, die sich von ihrem Führer verraten fühlten und die deshalb begannen, eine Zukunft ohne Hitler oder nach Hitler zu entwerfen. In den Gefangenenlagern gab es dazu zwei Projekte: das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD), das maßgeblich von Exilkommunisten gegründet wurde, und den Bund Deutscher Offiziere (BDO).
Im Osten Deutschlands wurde das Nationalkomitee Freies Deutschland nach 1945 ein Teil vom Gründungsmythos des neuen Staates. Nie wieder Waffen, nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Diese antifaschistische Gesinnung wurde zum öffentlichen Bekenntnis in SBZ und DDR, auch wenn sie im Bedarfsfall Ausnahmen kannte. In Westdeutschland wurde zur selben Zeit der Bund Deutscher Offiziere als Vereinigung von Vaterlandsverrätern diffamiert. Nachkriegskarrieren wurden wegen Mitarbeit im BDO geknickt oder gar nicht erst zugelassen. In Kriegsgefangenschaft beim Feind die Soldaten zum Überlaufen und zur Kapitulation aufzurufen, galt als Kollaboration. Der Ruf von Männern, die sich dem Bund angeschlossen hatten und in später Kriegsstunde patriotisch handelten, wurde in den 1950er Jahren gnadenlos beschädigt. Nicht Hitler, nicht seine Vollstrecker – sie waren die Verräter. Dieser in die Dielenbretter und Namenstafeln alter und neuer Kasernen eingetropfte Wehrmachtsgeist ist es, den die heutige Verteidigungsministerin suchen lässt. Eher wurde eine Kaserne nach einem Kampffuchs benannt als nach einem Helden aus den Reihen des BDO.
Stimmt das wirklich? Es gibt doch am Niederrhein in Kalkar eine VonSeydlitz-Kaserne, die sogar NATO-Bedeutung hat und Zentrum von Luftoperationen ist. Gut so, denn General Walther von Seydlitz-Kurzbach war Präsident des Bundes Deutscher Offiziere, der am 11./12. September 1943 im Gefangenenlager Lunjowo bei Moskau gegründet wurde. Leider ist die Kaserne nicht nach diesem General von Seydlitz benannt, sondern nach dem preußischen Kavalleriegeneral Friedrich Wilhelm von Seydlitz. Die Namensgeber von der Bundeswehr kannten die Militärgeschichte sehr gut. Seydlitz eins wussten sie von Seydlitz zwo zu unterscheiden.
Dass die Sowjetunion Walther von Seydlitz, der als Einziger der BDORepräsentanten in Nazi-Deutschland zum Tode verurteilt wurde, 1950 wegen Kriegsverbrechen zu Zwangsarbeit verurteilte und ihn erst 1955 nach der Moskau-Reise von Konrad Adenauer als einen der Letzten freigab, besserte in Westdeutschland den Umgang mit ihm und dem BDO in den 50er Jahren nicht. Noch 2017 auf der Suche nach Wehrmachts-Korpsgeist bei der Bundeswehr – im Zusammenhang mit der Spurensuche im Fall von Franco A. – beweist Heinrich Gerlachs Bericht »Odyssee in Rot« Aktualität.
Das gehört zur Nachwirkung von Heinrich Gerlach. Er starb 1991. Gerlach war ein deutscher Gymnasiallehrer, Jahrgang 1908, Soldat der deutschen Wehrmacht und als Oberleutnant in der Stalingradschlacht dabei. Zwei Romane hat er neben seiner Lehrerlaufbahn verfasst: »Durchbruch bei Stalingrad«, für den er am Tag des Kriegsendes, am 8. Mai 1945, den Schlusspunkt setzte, und »Odyssee in Rot«, den er am 5. Mai 1966 beendete. Der erste Roman schildert die Bilder des Schreckens dieser Schlacht, der zweite die Zeit der Kriegsgefangenschaft vom Februar 1943 bis zum 21. April 1950.
Beide Romane sind vergangenes und dieses Jahr neu erschienen. »Durchbruch bei Stalingrad« überhaupt zum ersten Mal, »Odyssee in Rot« als Neuausgabe. Der erste Roman galt als in sowjetischen Geheimarchiven verschollen. Für den Autor war das Manuskript nicht mehr existent. Er verfasste mit Hilfe eines Hypnotiseurs – eine der kuriosesten und spannendsten Geschichten der deutschen Literaturgeschichte – den Roman neu. 1956 erschien er nach fünfjähriger Rekonstruktion unter neuem Erich Loest
Titel als »Die verratene Armee« in der Nymphenburger Verlagsanstalt.
Dass beide Bücher heute wieder für Leser verfügbar sind, verdankt sich – neben dem Galiani-Verlag – dem Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel. Er entdeckte nach vielen Jahren der Forschung am 12. April 2012 im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau das vom russischen Geheimdienst 1949 konfiszierte Urmanuskript »Durchbruch bei Stalingrad«. Dieser Roman ist einer der besten Antikriegsromane, die von deutschen Autoren über die Kriege des 20. Jahrhunderts verfasst worden sind. Auf Augenhöhe mit Remarques »Im Westen nichts Neues« über den Ersten Weltkrieg. Das Urteil gründet sich auf Gerlachs Zeugenschaft und den Umstand, dass er keine andere Botschaft mit seinem Roman verband, als die Toten vor dem Vergessen zu bewahren. 2012 ist durch den Fund der Urfassung Gerlachs Intention vor dem Vergessen bewahrt.
Gansel hat seit seinem Sensationsfund den Entstehungs- und Echoraum beider Romane auf das Genaueste ausgeforscht. So komm es, dass die zuletzt erschienene Neuausgabe von »Odyssee in Rot« – wie schon bei der Edition des Stalingrad-Romans – von einem mehr als 200-seitigen Nachwort begleitet ist. Ein Nachwort, das sich liest wie ein Krimi.
Nicht nur, dass sich hier noch einmal die kuriose Geschichte des Urmanuskripts »Durchbruch bei Stalingrad« findet, nicht weniger fesselt die Entstehungsgeschichte von »Odyssee in Rot«. Detailliert legt Gansel dar, dass Gerlach den Roman auch verfasst hat, um der Verleumdung des Bundes Deutscher Offiziere entgegenzutreten und die Intentionen der Männer um General von Seydlitz einsehbar zu machen. Wegen der Angriffe gegen den BDO in der jungen Bundesrepublik verzichteten ehemalige Mitglieder darauf, sich zu einer Interessengemeinschaft zusammenzuschließen. In einem Rundbrief vom 15. August 1950 heißt es: »Selbst amtliche Stellen erheben schwere Vorwürfe und sprechen Verdächtigungen aus, die den Aufbau einer Existenz aufs schwerste gefährden und die zu entkräften in dem einzelnen Fall Mühe kostet«.
Dokumentiert wird im Nachwort der Fall des Walter Wilimzig. Er wird 1950 durch eine Artikelserie im »Spiegel« denunziert. Als Sprecher eines Lagers hatte er im Zuge der Selbstorganisation deutsche Kriegsgefangene wegen Diebstahls bestraft. Es kam zur Anklage. Wilimzig wurde 1951 wegen »Kameradenschinderei« zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Revisionsantrag vor dem Bundesgerichtshof brachte keinen Erfolg. Selbst als Wilimzig Jahrzehnte später eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen wollte und sich von Staranwalt Bossi verteidigen ließ, kam es zu keiner Zurücknahme des Urteils. Maßgeblich für die Verurteilung war Wilimzigs Mitgliedschaft im Bund Deutscher Offiziere. Man wird sagen können, dass hier politisch gegen einen geurteilt wurde, der bereit war, mit der Sowjetunion gegen Hitler ein Bündnis zu schließen.
War das die Grundintention des Bunds Deutscher Offiziere? Genau davon handelt Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot«. Auch hier hat Gerlach – wie schon in »Durchbruch bei Stalingrad« – als Autor einen autobiografischen Pakt geschlossen. Er benutzt seine Zeugenschaft, in diesem Fall sogar seine Mitwirkung bei der Entstehung des BDO, seine Kenntnis von entscheidenden Dokumenten und zeichnet damit die Ereignisse um die Entstehung des BDO nach.
Also ist »Odyssee in Rot« ein Bericht. Das fast siebenhundertseitige Buch ist von Heinrich Gerlach aber auch als Roman abgefasst. Denn nicht nur, dass er sich mit Oberleutnant Breuer ein Alter ego schafft, Gerlach lotet auch die psychologische Verfasstheit und Motivlage der Gründer des BDO aus. Sie stecken tief in einem Gewissenskonflikt. Hat Hitler mit seiner Entscheidung für das Ausharren im Kessel von Stalingrad nicht zuerst Hunderttausende von Soldaten verraten, bevor sie jetzt von seinen Fahnen fliehen?
Gerlach plädiert mit seinem ganzen Roman für das Gewissen. Dabei neigt sich »Odyssee in Rot« dem Genre des Romans zu. Das macht es leicht, Roman wie Nachwort gleichermaßen zu empfehlen. Waren die realistischen Darstellungen von Schlacht und Sterben in »Durchbruch bei Stalingrad« als harte Schreibweise vor allem eine seelische Therapie für den Autor, so ist »Odyssee in Rot« mehr. Es ist nicht zuletzt auch eine Abwehr des Vorwurfs vom Verrat an der Heimat.
Carsten Gansel schließt sein Nachwort mit dem Gedanken, dass Gerlach mit seinem Roman etwas geleistet hat, was »bis in die Gegenwart eine Aufgabe bleibt«, nämlich sich »diesem Kapitel deutscher Geschichte zu stellen«. Die Bundeswehr möge auf dem Weg zur angekündigten Überarbeitung ihres Traditionserlasses Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot« getrost noch einmal lesen!
Heinrich Gerlach: Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt. Herausgegeben und mit einem dokumentarischen Nachwort versehen von Carsten Gansel. Galiani Berlin, 928 S., geb., 36 €.