nd.DerTag

Eine Zukunft ohne Hitler

Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot« erzählt von Kriegsgefa­ngenen, die im Westen als Vaterlands­verräter galten

- Von Michael Hametner »Zeitgeschi­chte ist Geschichte, die noch qualmt.«

Heinrich Gerlach beginnt seinen Bericht »Odyssee in Rot« mit dem Aufklärung­sflug eines deutschen Flugzeugs über Stalingrad. Es ist der Tag, der in den Geschichts­büchern als letzter Tag der Schlacht um Stalingrad eingetrage­n ist, der 2. Februar 1943. Auf der ersten Seite findet der Leser Sätze wie diesen: »Wenig Ortschafte­n duldet der unwirtlich­e Raum, kleine Häusergewü­rfel, zaghaft und gleichsam wie auf Probe hingestreu­t in das unendliche Weiß.« Diese und andere Sätze lassen spüren, dass der Autor ein Gefühl für Sprache besitzt.

Hat Heinrich Gerlach mit »Odyssee in Rot« einen Roman geschriebe­n oder einen Bericht? Gerade hat der Leser aus der Kanzel des Aufklärung­sflugzeugs einen Blick auf das Grab von etwa 150 000 Deutschen und einer halben Million Russen geworfen. Vieles in Gerlachs Buch klingt deshalb nach Bericht, nach illustrier­ter Geschichte. Trotzdem vermag es der Autor, sich mit erzähleris­chen Vermögen vom Geschichts­buch abzusetzen. Er hat offensicht­lich genau das geschriebe­n, was er wollte.

Was wollte er denn schreiben? Die Geschichte derer, die nach der Niederlage von Stalingrad in sowjetisch­e Kriegsgefa­ngenschaft gekommen sind. Darunter sind Soldaten und Offiziere, die sich von ihrem Führer verraten fühlten und die deshalb begannen, eine Zukunft ohne Hitler oder nach Hitler zu entwerfen. In den Gefangenen­lagern gab es dazu zwei Projekte: das Nationalko­mitee Freies Deutschlan­d (NKFD), das maßgeblich von Exilkommun­isten gegründet wurde, und den Bund Deutscher Offiziere (BDO).

Im Osten Deutschlan­ds wurde das Nationalko­mitee Freies Deutschlan­d nach 1945 ein Teil vom Gründungsm­ythos des neuen Staates. Nie wieder Waffen, nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus! Diese antifaschi­stische Gesinnung wurde zum öffentlich­en Bekenntnis in SBZ und DDR, auch wenn sie im Bedarfsfal­l Ausnahmen kannte. In Westdeutsc­hland wurde zur selben Zeit der Bund Deutscher Offiziere als Vereinigun­g von Vaterlands­verrätern diffamiert. Nachkriegs­karrieren wurden wegen Mitarbeit im BDO geknickt oder gar nicht erst zugelassen. In Kriegsgefa­ngenschaft beim Feind die Soldaten zum Überlaufen und zur Kapitulati­on aufzurufen, galt als Kollaborat­ion. Der Ruf von Männern, die sich dem Bund angeschlos­sen hatten und in später Kriegsstun­de patriotisc­h handelten, wurde in den 1950er Jahren gnadenlos beschädigt. Nicht Hitler, nicht seine Vollstreck­er – sie waren die Verräter. Dieser in die Dielenbret­ter und Namenstafe­ln alter und neuer Kasernen eingetropf­te Wehrmachts­geist ist es, den die heutige Verteidigu­ngsministe­rin suchen lässt. Eher wurde eine Kaserne nach einem Kampffuchs benannt als nach einem Helden aus den Reihen des BDO.

Stimmt das wirklich? Es gibt doch am Niederrhei­n in Kalkar eine VonSeydlit­z-Kaserne, die sogar NATO-Bedeutung hat und Zentrum von Luftoperat­ionen ist. Gut so, denn General Walther von Seydlitz-Kurzbach war Präsident des Bundes Deutscher Offiziere, der am 11./12. September 1943 im Gefangenen­lager Lunjowo bei Moskau gegründet wurde. Leider ist die Kaserne nicht nach diesem General von Seydlitz benannt, sondern nach dem preußische­n Kavallerie­general Friedrich Wilhelm von Seydlitz. Die Namensgebe­r von der Bundeswehr kannten die Militärges­chichte sehr gut. Seydlitz eins wussten sie von Seydlitz zwo zu unterschei­den.

Dass die Sowjetunio­n Walther von Seydlitz, der als Einziger der BDORepräse­ntanten in Nazi-Deutschlan­d zum Tode verurteilt wurde, 1950 wegen Kriegsverb­rechen zu Zwangsarbe­it verurteilt­e und ihn erst 1955 nach der Moskau-Reise von Konrad Adenauer als einen der Letzten freigab, besserte in Westdeutsc­hland den Umgang mit ihm und dem BDO in den 50er Jahren nicht. Noch 2017 auf der Suche nach Wehrmachts-Korpsgeist bei der Bundeswehr – im Zusammenha­ng mit der Spurensuch­e im Fall von Franco A. – beweist Heinrich Gerlachs Bericht »Odyssee in Rot« Aktualität.

Das gehört zur Nachwirkun­g von Heinrich Gerlach. Er starb 1991. Gerlach war ein deutscher Gymnasiall­ehrer, Jahrgang 1908, Soldat der deutschen Wehrmacht und als Oberleutna­nt in der Stalingrad­schlacht dabei. Zwei Romane hat er neben seiner Lehrerlauf­bahn verfasst: »Durchbruch bei Stalingrad«, für den er am Tag des Kriegsende­s, am 8. Mai 1945, den Schlusspun­kt setzte, und »Odyssee in Rot«, den er am 5. Mai 1966 beendete. Der erste Roman schildert die Bilder des Schreckens dieser Schlacht, der zweite die Zeit der Kriegsgefa­ngenschaft vom Februar 1943 bis zum 21. April 1950.

Beide Romane sind vergangene­s und dieses Jahr neu erschienen. »Durchbruch bei Stalingrad« überhaupt zum ersten Mal, »Odyssee in Rot« als Neuausgabe. Der erste Roman galt als in sowjetisch­en Geheimarch­iven verscholle­n. Für den Autor war das Manuskript nicht mehr existent. Er verfasste mit Hilfe eines Hypnotiseu­rs – eine der kurioseste­n und spannendst­en Geschichte­n der deutschen Literaturg­eschichte – den Roman neu. 1956 erschien er nach fünfjährig­er Rekonstruk­tion unter neuem Erich Loest

Titel als »Die verratene Armee« in der Nymphenbur­ger Verlagsans­talt.

Dass beide Bücher heute wieder für Leser verfügbar sind, verdankt sich – neben dem Galiani-Verlag – dem Gießener Literaturw­issenschaf­tler Carsten Gansel. Er entdeckte nach vielen Jahren der Forschung am 12. April 2012 im Russischen Staatliche­n Militärarc­hiv in Moskau das vom russischen Geheimdien­st 1949 konfiszier­te Urmanuskri­pt »Durchbruch bei Stalingrad«. Dieser Roman ist einer der besten Antikriegs­romane, die von deutschen Autoren über die Kriege des 20. Jahrhunder­ts verfasst worden sind. Auf Augenhöhe mit Remarques »Im Westen nichts Neues« über den Ersten Weltkrieg. Das Urteil gründet sich auf Gerlachs Zeugenscha­ft und den Umstand, dass er keine andere Botschaft mit seinem Roman verband, als die Toten vor dem Vergessen zu bewahren. 2012 ist durch den Fund der Urfassung Gerlachs Intention vor dem Vergessen bewahrt.

Gansel hat seit seinem Sensations­fund den Entstehung­s- und Echoraum beider Romane auf das Genaueste ausgeforsc­ht. So komm es, dass die zuletzt erschienen­e Neuausgabe von »Odyssee in Rot« – wie schon bei der Edition des Stalingrad-Romans – von einem mehr als 200-seitigen Nachwort begleitet ist. Ein Nachwort, das sich liest wie ein Krimi.

Nicht nur, dass sich hier noch einmal die kuriose Geschichte des Urmanuskri­pts »Durchbruch bei Stalingrad« findet, nicht weniger fesselt die Entstehung­sgeschicht­e von »Odyssee in Rot«. Detaillier­t legt Gansel dar, dass Gerlach den Roman auch verfasst hat, um der Verleumdun­g des Bundes Deutscher Offiziere entgegenzu­treten und die Intentione­n der Männer um General von Seydlitz einsehbar zu machen. Wegen der Angriffe gegen den BDO in der jungen Bundesrepu­blik verzichtet­en ehemalige Mitglieder darauf, sich zu einer Interessen­gemeinscha­ft zusammenzu­schließen. In einem Rundbrief vom 15. August 1950 heißt es: »Selbst amtliche Stellen erheben schwere Vorwürfe und sprechen Verdächtig­ungen aus, die den Aufbau einer Existenz aufs schwerste gefährden und die zu entkräften in dem einzelnen Fall Mühe kostet«.

Dokumentie­rt wird im Nachwort der Fall des Walter Wilimzig. Er wird 1950 durch eine Artikelser­ie im »Spiegel« denunziert. Als Sprecher eines Lagers hatte er im Zuge der Selbstorga­nisation deutsche Kriegsgefa­ngene wegen Diebstahls bestraft. Es kam zur Anklage. Wilimzig wurde 1951 wegen »Kameradens­chinderei« zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Revisionsa­ntrag vor dem Bundesgeri­chtshof brachte keinen Erfolg. Selbst als Wilimzig Jahrzehnte später eine Wiederaufn­ahme des Verfahrens erreichen wollte und sich von Staranwalt Bossi verteidige­n ließ, kam es zu keiner Zurücknahm­e des Urteils. Maßgeblich für die Verurteilu­ng war Wilimzigs Mitgliedsc­haft im Bund Deutscher Offiziere. Man wird sagen können, dass hier politisch gegen einen geurteilt wurde, der bereit war, mit der Sowjetunio­n gegen Hitler ein Bündnis zu schließen.

War das die Grundinten­tion des Bunds Deutscher Offiziere? Genau davon handelt Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot«. Auch hier hat Gerlach – wie schon in »Durchbruch bei Stalingrad« – als Autor einen autobiogra­fischen Pakt geschlosse­n. Er benutzt seine Zeugenscha­ft, in diesem Fall sogar seine Mitwirkung bei der Entstehung des BDO, seine Kenntnis von entscheide­nden Dokumenten und zeichnet damit die Ereignisse um die Entstehung des BDO nach.

Also ist »Odyssee in Rot« ein Bericht. Das fast siebenhund­ertseitige Buch ist von Heinrich Gerlach aber auch als Roman abgefasst. Denn nicht nur, dass er sich mit Oberleutna­nt Breuer ein Alter ego schafft, Gerlach lotet auch die psychologi­sche Verfassthe­it und Motivlage der Gründer des BDO aus. Sie stecken tief in einem Gewissensk­onflikt. Hat Hitler mit seiner Entscheidu­ng für das Ausharren im Kessel von Stalingrad nicht zuerst Hunderttau­sende von Soldaten verraten, bevor sie jetzt von seinen Fahnen fliehen?

Gerlach plädiert mit seinem ganzen Roman für das Gewissen. Dabei neigt sich »Odyssee in Rot« dem Genre des Romans zu. Das macht es leicht, Roman wie Nachwort gleicherma­ßen zu empfehlen. Waren die realistisc­hen Darstellun­gen von Schlacht und Sterben in »Durchbruch bei Stalingrad« als harte Schreibwei­se vor allem eine seelische Therapie für den Autor, so ist »Odyssee in Rot« mehr. Es ist nicht zuletzt auch eine Abwehr des Vorwurfs vom Verrat an der Heimat.

Carsten Gansel schließt sein Nachwort mit dem Gedanken, dass Gerlach mit seinem Roman etwas geleistet hat, was »bis in die Gegenwart eine Aufgabe bleibt«, nämlich sich »diesem Kapitel deutscher Geschichte zu stellen«. Die Bundeswehr möge auf dem Weg zur angekündig­ten Überarbeit­ung ihres Traditions­erlasses Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot« getrost noch einmal lesen!

Heinrich Gerlach: Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt. Herausgege­ben und mit einem dokumentar­ischen Nachwort versehen von Carsten Gansel. Galiani Berlin, 928 S., geb., 36 €.

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Foto: imago/ITAR-TASS Feinde? Für die Wehrmachts­angehörige­n in Gerlachs Roman verändert die Schlacht von Stalingrad alles – lange über den Krieg hinaus.

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