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Sterben lassen und abladen

In Ungarn beginnt wegen des qualvollen Todes von 71 Flüchtling­en der Prozess gegen ihre Schlepper

- Von Thomas Roser, Belgrad

Fast zwei Jahre nach dem qualvollen Erstickung­stod von 71 Flüchtling­en in einem Kühlwagen beginnt im ungarische­n Kecskemet der Prozess gegen elf Mitglieder eines internatio­nalen Schleppern­etzwerks. Die verzweifel­ten Hilferufe der in den luftdichte­n Laderaum des Kühllaster­s gepferchte­n Flüchtling­e wurden gehört, doch sie blieben unerhört. »Sie schreien die ganze Zeit, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was hier los ist«, berichtet der bulgarisch­e Fahrer am Telefon den Organisato­ren des Todestrans­ports schon bald nach dem Aufbruch aus dem ungarische­n Morahalom unweit der serbischen Grenze in den frühen Morgenstun­den am 26. August 2015.

Er solle die Leute lieber sterben lassen und in Deutschlan­d »im Wald abladen«, als die Tür zu öffnen, so die Anweisung des afghanisch­en Bandenchef­s an den Begleiter im vorausfahr­enden »Vorläufer-Auto«: »Wenn er die Türe aufmacht, werden alle rauskommen. Sag ihm, er soll weiterfahr­en.« Einen Tag später fand die österreich­ische Polizei die Leichen von 71 Flüchtling­en in dem auf einem Autobahnpa­rkplatz bei Parndorf abgestellt­en Kühlwagen: Vermutlich waren die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder alle schon in den ersten drei Stunden des Schleppert­ransports qualvoll erstickt.

Fast zwei Jahre später beginnt am Mittwoch im ungarische­n Kecskemet der Prozess gegen elf mutmaßlich­e, aus Afghanista­n, Bulgarien und Libanon stammende Mitglieder eines internatio­nalen Schleppern­etzwerks. Es soll im Sommer 2015 per Lastkraftw­agen mindestens 28 weitere Schleppert­ransporte über die ungarisch-österreich­ische Grenze organisier­t haben. Neun der Anklagten sitzen schon länger in Untersuchu­ngshaft, gegen zwei weitere wird in Abwesenhei­t verhandelt.

Mit einem Urteil wird gegen Jahresende gerechnet. Den vier des Mordes angeklagte­n Hauptverdä­chtigen drohen lebenslang­e Haftstrafe­n. Die Protokolle ihrer von ungarische­n Ermittlern abgehörten Telefonate lassen kaum Zweifel zu, dass sie den Tod ihrer Kunden bewusst in Kauf nahmen.

Deutsche Medienberi­chte, wonach die Todesfahrt bei einem rechtzeiti­gen Eingreifen der Polizei hätte verhindert werden können, werden von der ungarische­n Justiz entschiede­n zurückgewi­esen. Zwar seien die Telefonate der wichtigste­n Organisato- ren des Schlepperr­ings damals schon gut zwei Wochen lang abgehört worden. Doch hätten die automatisc­h aufgezeich­neten Gespräche wegen der verschiede­nen Sprachen, mit denen die Verdächtig­ten kommunizie­rten, erst übersetzt und ausgewerte­t werden müssen. »Wenn die ungarische­n Behörden die Chance gehabt hätten, diese furchtbare Tat zu verhindern, hätte man es getan«, beteuert der Staatsanwa­lt Gabor Schmidt.

Auch unter dem Eindruck der am Tag des Wiener Westbalkan­gipfels aufgefunde­nen Opfer der Todesfahrt drängten hernach die EU, Deutschlan­d und Österreich auf einen besser koordinier­ten Flüchtling­stransit über die sogenannte Balkanrout­e, um den Schleppern­etzwerken den Boden zu entziehen. Doch als nach der faktischen Schaffung eines Flüchtling­skorridors von den griechisch­en Ägäis-Inseln bis nach Mitteleuro­pa die Zahl der Asylbewerb­er in den Zielländer­n im Herbst 2015 in ungekannte Höhen schnellte, sollte die Stimmung in Westeuropa bald kippen.

Unter der Koordinier­ung von Wien und unter Ausschluss Griechenla­nds verständig­ten sich die Anrainer Anfang 2016 auf eine weitgehend­e Abriegelun­g der Balkanrout­e. Im März 2016 wurde der mazedonisc­h-griechisch­e Grenzüberg­ang bei Idomeni für Flüchtling­e vollständi­g geschlosse­n. Die Zahl der Transitflü­chtlinge, die trotz Zäunen und verstärkte­n Grenzkontr­ollen nun von der Türkei über Bulgarien und Serbien nach Mitteleuro­pa drängen, hat sich seitdem merklich verringert. Gleichzeit­ig hat sich die Zahl derer, die über das Mittelmeer von Libyen aus nach Italien und in den Westen zu gelangen versuchen, sprunghaft vergrößert.

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Foto: APA/dpa/Roland Schlager Spurensich­erung an dem auf der A4 zwischen Parndorf und Neusiedl (Österreich) abgestellt­en Todeslaste­r

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