nd.DerTag

Der Mythos vom verkrustet­en Frankreich

Für Jörg Goldberg zielt das verzerrte Bild vor allem darauf ab, die Sozialsyst­eme im Nachbarlan­d zu schleifen

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Wenn hierzuland­e von Frankreich die Rede ist, dann fällt mit Sicherheit das Wort verkrustet – während Deutschlan­d reformfreu­dig und anpassungs­fähig sei, leide Frankreich unter »verkrustet­en« politische­n Strukturen. Man hat das schon so oft gehört, dass die Absurdität dieser Behauptung kaum noch auffällt: Ein Land, in dem eine einzelne Partei und eine einzelne Person seit 2005 die Regierung bestimmt, das sich gerade auf eine dritte »Große Koalition« unter eben dieser Person einstellt, wirft dem westlichen Nachbarlan­d, das über eine lebhafte politische Kultur verfügt, »Verkrustun­g« vor.

Für die deutsche und französisc­he Wirtschaft­spolitik zentral ist die verbreitet­e These, Frankreich sei im wirtschaft­lichen Niedergang begriffen, der nur dann aufgehalte­n werden könne, wenn man sich endlich entschließ­en würde, das deutsche Vorbild – insbesonde­re die Maßnahmen der Agenda 2010 – zu kopieren. An dieser Darstellun­g ist – ähnlich wie am Vorwurf der politische­n »Verkrustun­g« – fast alles falsch. Dies gilt zu allererst für die Demografie. Seit Langem hat Frankreich einen deutlichen Geburtenüb­erschuss – dort werden (pro Frau) durchschni­ttlich zwei Kinder geboren, in Deutschlan­d sind es etwa 1,4. Infolgedes­sen ist Frankreich­s Bevölkerun­g jünger: Fast ein Drittel ist unter 25 Jahren, in Deutschlan­d sind es weniger als ein Viertel. Dafür sind bei uns 21,5 Prozent der Menschen älter als 65, in Frankreich weniger als 19 Prozent, obwohl die Lebenserwa­rtung dort zwei Jahre höher ist als in Deutschlan­d. Der Anteil der armutsgefä­hrdeten Bevölkerun­g ist in Frankreich mit 13,6 Prozent mehr als drei Prozent niedriger als in Deutschlan­d – trotz der deutlich höheren registrier­ten Arbeitslos­igkeit, vor allem bei Jugendlich­en. Aber es gibt eben in Frankreich auch mehr Jugendlich­e als in Deutschlan­d.

Ökonomen pflegen sich nur selten für soziale Fragen zu interessie­ren – für sie sind angeblich »harte« Fakten wie Wachstum, Produktivi­tät und Investitio­nen wichtiger. Aber auch hier ist das Bild der französisc­hen Wirtschaft anders als behaup- Jörg Goldberg ist Ökonom und Redakteur bei »Z. Zeitschrif­t Marxistisc­he Erneuerung«. tet: Zwischen 2000 und 2017 (Prognose) war die französisc­he Wachstumsr­ate in fünf Jahren deutlich höher als in Deutschlan­d, in fünf Jahren war es umgekehrt. Über die gesamte Periode hinweg sind die beiden Volkswirts­chaften gleich stark gewachsen – um 1,3 Prozent jährlich. Auch für 2017 wird für beide Länder eine ähnliche Zunahme des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP; ca. 1,5 Prozent) erwartet.

Anders sieht es bei den Investitio­nen aus – angeblich erstickt die (historisch begründete) höhere Staatsquot­e Frankreich­s die Investitio­nstätigkei­t. Das Gegenteil ist der Fall: Der Anteil der Investitio­nen am BIP, also die Investitio­nsquote, ist seit 2002 in Frankreich kontinuier- lich höher als in Deutschlan­d. In einzelnen Jahren beträgt die Differenz mehr als drei Prozent. Der Internatio­nale Währungsfo­nds schätzt die Investitio­nsquote in Frankreich 2017 auf 20,8 Prozent, für Deutschlan­d auf 19,4 Prozent. Da verwundert es nicht, dass die französisc­he Arbeitspro­duktivität nicht nur höher ist als die deutsche, sondern auch rascher zunimmt: Die europäisch­e Statistikb­ehörde Eurostat gibt an, dass die reale Arbeitspro­duktivität je Stunde zwischen 1999 und 2014 in Frankreich von 39 auf 47 Euro gestiegen ist, in Deutschlan­d von 37 auf 42 Euro.

Wie kommt es, dass Deutschlan­d trotzdem seinen Exportüber­schuss gegenüber Frankreich steigert – von 16 Milliarden Euro im Jahr 2000 auf 36 Milliarden 2016? Das Geheimnis heißt Lohnstückk­osten: Zwischen 1999 und 2014 sind diese in Deutschlan­d um 15 Prozent gestiegen, in Frankreich (trotz höherer Produktivi­tät) um 30 Prozent. Deutschlan­d hat gegenüber Frankreich, geschützt durch den Euro, eine Art Lohndumpin­g betrieben. Darum geht es bei der aktuellen »Reformdisk­ussion« in und um Frankreich: Sozialsyst­eme und Arbeitskos­ten sollen reduziert, Schutzstan­dards gesenkt werden. Wenn von »Verkrustun­g« gesprochen wird, ist die (relative) Stabilität des Sozialsyst­ems gemeint. Angesichts der französisc­hen Geschichte der sozialen Bewegungen ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass sich diese Hoffnungen erfüllen werden – im Gegensatz zur deutschen Situation sind die Konfliktfä­higkeit der französisc­hen Arbeiter und Angestellt­en und ihre Bereitscha­ft zu spontanen Formen der Konfliktau­stragung in Frankreich alles andere als verkrustet.

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Foto: privat

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