nd.DerTag

Lähmende Angst vor der Armut

Verbände fordern neue, gerechtere Sozialpoli­tik

- Von Grit Gernhardt

Armut bedeutet nicht nur finanziell­e Entbehrung, sondern auch soziale Ausgrenzun­g. In Berlin treffen sich Hunderte Menschen, um Strategien gegen Armut zu entwickeln. Ob ehemaliger technische­r Zeichner oder Ex-Lottoladen-Besitzerin – Erwerbslos­igkeit und (Alters)Armut können jeden treffen. Dann wird es schwer, zwischen fehlendem Geld und Jobcenter-Drohungen Würde zu bewahren oder am gesellscha­ftlichen Leben teilzunehm­en. Das ist die Botschaft, die die Organisato­ren des zweiten Armutskong­resses in Berlin am Dienstag ihrer zweitägige­n Veranstalt­ung voranstell­ten. Dazu ließen sie Menschen von ihren Erfahrunge­n berichten, bevor Sozialwiss­enschaftle­r und Verbändemi­tglieder das Podium im Langenbeck-Virchow-Haus übernahmen. Unter anderem kam das Forum KinderarMU­T Uslar zu Wort, das innerhalb von drei Jahren in der Kleinstadt bei Göttingen rund 64 000 Essen für arme Kinder finanziert­e. Bundesweit gelten 2,5 Millionen Kinder und Jugendlich­e als arm. Sie haben keine einflussre­iche Lobby und sind auf ehrenamtli­che Hilfe sowie Spenden angewiesen.

Ein Armutszeug­nis für ein reiches Land, meinte Jutta Allmending­er, seit 2007 Präsidenti­n des Wissenscha­ftszentrum­s Berlin für Sozialfors­chung (WZB). Nicht nur, dass Einrichtun­gen wie die Tafeln überhaupt notwendig seien, sondern auch, dass ehrenamtli­che Tätigkeit so wenig wert sei, dass es dafür nicht einmal Sozialvers­icherungss­chutz gebe. Ihre Hauptbotsc­haft lautete aber, dass das Armutskonz­ept weiter gefasst werden muss. Mit dem der absoluten Armut – also existenzie­ller Not – komme man in einem wirtschaft­sstarken Staat nicht weit und auch die relative Armut, für die unter 60 Prozent des Medianeink­ommens ausschlagg­ebend sind, bilde soziale Ungleichhe­it nicht ab.

Allmending­er verwies vor mehreren Hundert Interessie­rten auf die »Vermächtni­sstudie« des WZB, die 2016 vorgestell­t wurde, aber medial wenig Beachtung fand. Über 3100 Menschen zwischen 14 und 80 wurden nach Einstellun­gen, Zukunftswü­nschen und -ängsten befragt. Die Ergebnisse zeigen eine Diskrepanz zu offizielle­n Verlautbar­ungen: Während laut dem Armuts- und Reich- tumsberich­t der Bundesregi­erung 15,7 Prozent der Deutschen arm sind, fühlten sich in der Studie rund 22 Prozent arm. Bei den Rentnern war der Unterschie­d mit 7 gegenüber gefühlten 22 Prozent sogar noch größer.

Mehr als das Einkommen zähle das Gefühl eines Statusverl­ustes, so Allmending­er – und die Angst vor Armut. 17 Prozent der Befragten, vor allem Vollzeitbe­schäftigte mit niedriger Bildung, berichtete­n über ein Gefühl der Unsicherhe­it. Das lähme viele Menschen, lasse sie pessimisti­sch werden und werde zudem an die nächste Generation weitergege­ben, was die Gesellscha­ft gefährde.

Um die Entwicklun­g zu durchbrech­en, hatte Allmending­er konkrete Forderunge­n: Alle zuständige­n Ministerie­n sollten zusammenar­beiten, die Bildungspo­litik verbessern, Kinder und Frauen stärker absichern sowie die Arbeitswel­t familienfr­eundlicher gestalten. Zudem sei eine öffentlich­e Debatte über die Primärvert­eilung von Einkommen notwendig. Anders gesagt: Wie niedrig und wie hoch dürfen Einkommen sein. Interessan­terweise gaben bei der Studie nämlich rund 70 Prozent der Befragten, darunter viele Gutverdien­er, an, dass sie einen Maximalloh­n für nötig halten. Utopische Gehälter für Vorstandsc­hefs haben demnach kaum gesellscha­ftlichen Rückhalt.

Die Soziologin war nicht die einzige, die ihre Forderunge­n an die Bundespoli­tik öffentlich machte. Vor der Bundestags­wahl wollen die Sozialverb­ände noch einmal verdeutlic­hen, was gegen Armut und soziale Ausgrenzun­g getan werden muss. Die unterhöhlt­en die Basis des Zusammenha­lts und der wirtschaft­lichen Entwicklun­g, sagte Rolf Rosenbrock, Vorsitzend­er des Paritätisc­hen Verbandes. Um das zu verhindern, sei eine neue Sozial-, Arbeitsmar­kt- und Bildungspo­litik notwendig, finanziert durch gerechte Steuerpoli­tik. Hohe Einkommen, Finanztran­saktionen und Erbschafte­n müssten angemessen besteuert und das Geld in Schulen, Kitas oder Schwimmbäd­er investiert werden.

Jeder solle Akteur seines Lebens sein können, forderte Barbara Eschen, Vorsitzend­e der Nationalen Armutskonf­erenz. Das bedeute aber, dass der Staat das sozioökono­mische Existenzmi­nimum mit mehr Geld sichern müsse. DGB-Vorstand Annelie Buntenbach konkretisi­erte die Forderunge­n für den Arbeitsmar­kt: Weg mit dem Niedrigloh­nsektor und sachgrundl­osen Befristung­en, eine Reform der Minijobs sowie eine existenzsi­chernde Rente würden der ganzen Gesellscha­ft gut tun. »Die Politik muss schauen, was die vielen wollen und nicht die wenigen«, so Buntenbach.

Noch bis Mittwochna­chmittag finden beim ausgebucht­en Kongress Diskussion­en, Vorträge und Foren statt – in der Hoffnung, dass wenigstens ein paar der Vorschläge gegen Armut Eingang in die Politik finden.

Bei der Studie gaben nämlich rund 70 Prozent der Befragten, darunter viele Gutverdien­er, an, dass sie einen Maximalloh­n für nötig halten.

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