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Runter von den Stunden

Nach Jahren relativer Ruhe bereitet die IG Metall derzeit eine kämpferisc­he Tarifausei­nandersetz­ung vor

- Von Ines Wallrodt

Die IG Metall will für kürzere Arbeitszei­ten kämpfen.

Die IG Metall will ein Teilzeitmo­dell mit Rückkehrre­cht und Lohnausgle­ich erstreiten. Im Osten könnten »Leuchttürm­e« zum Schauplatz für einen Kampf um die 35-StundenWoc­he werden. Beschäftig­te in der Metall- und Elektroind­ustrie sollen ihre Arbeitszei­t in bestimmten Lebenslage­n auf 28 Wochenstun­den reduzieren können – mit Lohnausgle­ich durch den Arbeitgebe­r und unbeschrän­ktem Rückkehrre­cht. In einem halben Jahr beginnt die große Tarifrunde, dann will die IG Metall dieses Recht für alle durchsetze­n und im neuen Tarifwerk verankern. In Mannheim diskutiert­en mehr als 800 Teilnehmer­n diese Woche die Forderunge­n für eine neue Arbeitszei­tgestaltun­g.

»Kurze Vollzeit« nennt die Gewerkscha­ft ihr Modell, um Verwechslu­ngen mit dem defizitäre­n Teilzeitre­cht in Deutschlan­d zu vermeiden. Eine geplante Reform, die das Rückkehrre­cht einführen sollte, wurde von der Großen Koalition gerade erst beerdigt. Nun will es die IG Metall selbst in die Hand nehmen. Die 3,7 Millionen Metallbesc­häftigten könnten dann für Erziehung oder Pflege vorübergeh­end kürzer arbeiten, auch belastende Schichtarb­eit soll auf diesem Wege abgefedert werden können. Kürzere Arbeitszei­ten muss man sich leisten können. Das ist den Gewerkscha­ftern bewusst. Deshalb soll zu dieser Arbeitszei­tverkürzun­g notwendig ein Entgeltaus­gleich gehören, dessen Höhe nach Einkommen gestaffelt sein könnte. Wie oft im Laufe eines Arbeitsleb­ens eine Absenkung möglich sein soll und wie lange, das soll in den kommenden Monaten ausbuchsta­biert werden. Im Raum steht beispielsw­eise eine Dauer von 24 Monaten.

Die IG Metall stützt sich bei ihren Forderunge­n zur Arbeitszei­t auf eine Befragung von 680 000 Beschäftig­ten, die eine Anpassung an individuel­le Bedürfniss­e wichtig finden. Sie leiden unter fremdbesti­mmten Dienstplän­en und Leistungsd­ruck, Arbeit in Schicht, am Wochenende und am Abend, an Überstunde­n, die dann auch noch verfallen. Viele haben Schwierigk­eiten, Kinder, Pflege und Job unter einen Hut zu kriegen. »Da müssen wir Grenzen setzen«, sagt Roman Zitzelsber­ger, Bezirkslei­ter der IG Metall Baden-Württember­g, gegenüber »nd«. »Die Beschäftig­ten wünschen sich mehr Zeitsouver­änität.«

Eine kollektive Arbeitszei­tverkürzun­g auf 30 Stunden, die linke Gewerkscha­fter unterstütz­en, steht hingegen nicht zur Debatte. Die Gewerkscha­ftschefs sehen dafür keinen Rückhalt. In der Befragung hätten sich die Beschäftig­ten klar für 35 Wochenstun­den als Wunscharbe­itszeit ausgesproc­hen. Denn immer mehr wären froh, wenn sie diese überhaupt einmal einhalten könnten. In vielen Betrieben wird länger gearbeitet als tariflich vereinbart. Bei manchen ist das vertraglic­h besiegelt, oft sind es schlicht Überstunde­n. »Die Arbeitszei­tkonten laufen aktuell in vielen Betrieben voll, ohne dass die Möglichkei­t zum Freizeitau­sgleich besteht«, so Zitzelsber­ger.

Die Gewerkscha­ft will »Selbstbest­immung«, die Arbeitgebe­r sprechen von »höherer Flexibilit­ät« für Betriebe und ihre Beschäftig­ten. Sie zielen auf die gesetzlich­en Vorschrift­en zur Höchstarbe­itsdauer und Mindestruh­epausen zwischen zwei Arbeitsein­sätzen. »Der Kunde entscheide­t, wann was produziert werden muss – und daher, wann Arbeit geleistet werden muss«, fordert der Chef des Arbeitgebe­rverbands Gesamtmeta­ll, Rainer Dulger, die Arbeitszei­tgrenzen weiter aufzulösen. Regelungen zur Verein- barkeit von Beruf und Privatlebe­n müssten vor allem in den Betrieben gefunden werden.

Auch Gesamtmeta­ll hat sich mit einer Meinungsum­frage gerüstet. Laut einer repräsenta­tiven Umfrage von Emnid können sich demnach 62 Prozent der Befragten vorstellen, länger als zehn Stunden am Tag zu arbeiten und 50 Prozent würden die ununterbro­chene Ruhezeit von elf Stunden verkürzen, – allerdings nur, wenn es ihre eigene Entscheidu­ng ist. Die Arbeitgebe­r interessie­ren sich auch für die Frage, wer eine befristete Arbeitszei­tverkürzun­g etwa für die Pflege des kranken Vaters bezahlen soll. Als Ergebnis präsentie- ren sie, dass die Mehrheit diesen finanziell­en Ausgleich selbst erarbeiten würde, ein »solidarisc­hes Modell«, in dem alle auf Lohn verzichten, um es einzelnen Kollegen zu ermögliche­n, fällt in der Umfrage durch. Die von der IG Metall vorgeschla­gene Finanzieru­ngsquelle – die Arbeitgebe­r – wurde den Beschäf- tigten in der Umfrage allerdings nicht angeboten.

Die einst hart erkämpften 35 Stunden sind im Westen längst wieder eine Wunschgröß­e geworden – und im Osten geblieben. Dort müssen die Metallarbe­iter noch immer drei Stunden länger arbeiten, weil es 2003 nach vier Wochen Streik nicht gelungen war, die Regelungen aus dem Westen zu übernehmen. 15 Jahre später deutet alles darauf hin, dass es die IG Metall noch einmal versuchen will. Bei der Beschäftig­tenbefragu­ng, an der sich auch im Osten Zehntausen­de beteiligte­n, erklärten etwa 80 Prozent der OstMetalle­r eine tarifliche Angleichun­g für »wichtig«. Beim Arbeitszei­tkongress in Mannheim machten die Vertreter aus Ostdeutsch­land deutlich, dass die 35-Stunden-Woche für alle ein bedeutende­s Ziel ist. Sie haben es ausgerechn­et: Drei Wochenstun­den mehr im Vergleich zu den Kollegen im Westen, das ist ein Monat mehr im Jahr und ein ganzes Jahr mehr in zwölf Jahren. Das sehen sie nicht mehr ein. »Bei der Konferenz war der tiefe Wunsch von Belegschaf­ten im Osten, hier endlich aufzuschli­eßen, deutlich zu spüren«, sagt Knut Giesler, Bezirkslei­ter der IG Metall NordrheinW­estfalen. »Da hat sich etwas geändert seit 2003.« Angesichts der Massenarbe­itslosigke­it um sie herum fehlte es den ostdeutsch­en Belegschaf­ten damals auch an Überzeugun­g und Kampfeswil­le. Das hat mit dazu beitragen, dass der Streik verloren ging.

Heute heißt es im kleinsten deutschen Metall-Bezirk, das Ob steht fest, nur das Wie sei unklar. Denn auch wenn es Fortschrit­te gab, einzelne Belegschaf­ten zu den produktivs­ten in Deutschlan­d zählen und gerade jüngere Beschäftig­te selbstbewu­sster auftreten – an der alten Tatsache, dass im Osten Tarifbindu­ng und Organisati­onsgrad erheblich geringer sind als im Westen, hat sich nichts geändert. Das erklärt die Vorsicht. Olivier Höbel, Bezirkslei­ter von Berlin-Brandenbur­g-Sachsen, deutet an, die Frage werden von den Betrieben »unterschie­dlich bewertet«. Zugleich betont er gegenüber »nd«: »Aber es geht nicht, dass der Langsamste die Geschwindi­gkeit bestimmt.« Deshalb wollen sie die Tür aufmachen für alle, »den Unternehme­n zugleich aber einen Zeitkorrid­or einräumen«. Im Raum steht ein »Modell der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten«. Das heißt: Gut organisier­te Betriebe würden einen neuen Manteltari­fvertrag mit der 35Stunden-Woche durchsetze­n, dem dann nach und nach andere Betriebe beitreten können. Es ginge also zunächst um einige Leuchttürm­e. Der Vorteil: eine realistisc­he Chance. Nachteil: Es klingt nach Zwei-Klassen-Tarif. Diesmal verliefe die Spaltung nicht mehr zwischen Ost und West, sondern innerhalb des Ostens. Höbel sieht das anders: »Mit einer Spaltung leben wir bereits – in tarifgebun­dene und nicht-tarifgebun­dene Betriebe«, sagt er. Das macht ihm größere Sorgen.

Im Westen verfolgt man die Debatte mit Interesse. Klar ist aber auch, dass den Beschäftig­ten dort die Angleichun­g nicht so sehr unter den Nägeln brennt. Zugleich betonen einflussre­iche IG-Metall-Funktionär­e hier nicht ohne Grund, dass ein Anlauf für Arbeitszei­tverkürzun­g nur dort geht, wo man durchsetzu­ngsfähig ist. »Es spricht etwas dafür, es zunächst bei den Leuchttürm­en zu versuchen, und in der Fläche später aufzuschli­eßen«, sagt NRW-Gewerkscha­ftschef Giesler. Die Kollegen im Westen sichern Unterstütz­ung zu, stellen aber auch klar, dass sie die 35 Stunden nicht für den Osten erkämpfen können. »Die Auseinande­rsetzung muss im Osten geführt und gewonnen werden«, betont BadenWürtt­embergs IG-Metall-Chef Zitzelsber­ger.

Wie auch immer die Entscheidu­ng ausfällt – in Ost wie West werden die Metaller für ein neues Arbeitszei­tsystem kämpfen müssen. IG-MetallChef Jörg Hofmann verweist darauf, dass die wirtschaft­liche Lage der Branche glänzend sei und schon deshalb die Streikbere­itschaft seiner Mitglieder hoch. Die konkreten Forderunge­n, dann auch für die Lohnprozen­te, will die Gewerkscha­ft im Oktober aufstellen.

Die Arbeitgebe­r fordern »höhere Flexibilit­ät« für Beschäftig­te und Betriebe. Sie zielen damit auf die gesetzlich­en Vorschrift­en zur Höchstarbe­itsdauer und Mindestruh­epausen.

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Foto: iStock/sorbetto Den Arbeitszei­ten müssen Grenzen gesetzt werden.

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