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Ruhe-Störung erwünscht

Das Bundesverf­assungsger­icht hat 1985 erklärt, was das Recht auf Versammlun­gsfreiheit bedeutet

- Von Iskander Herzen

Das Verspreche­n der Versammlun­gsfreiheit hat das Grundgeset­z zwar allen Deutschen von Anfang an, also seit 1949 gegeben. Aber eingelöst hat es erst das Bundesverf­assungsger­icht 36 Jahre später im sogenannte­n Brokdorf-Beschluss von 1985, in dem es den Deutschen den unschätzba­ren Wert dieses Grundrecht­s unmissvers­tändlich erklärte. Seine entscheide­nden Sätze lauten erstens: »Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlun­gsfreiheit aktiv am politische­n Meinungs- und Willensbil­dungsproze­ss teilzunehm­en, gehört zu den unentbehrl­ichen Funktionse­lementen eines demokratis­chen Gemeinwese­ns.« Zweitens: »Diese grundlegen­de Bedeutung des Freiheitsr­echts ist vom Gesetzgebe­r beim Erlass grundrecht­sbeschränk­ender Vorschrift­en sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.«

Damit zeigten die Richter, was unabhängig­e Rechtsprec­hung bedeutet, die nicht dem Zeitgeist, sondern dem Geist der Verfassung verpflicht­et ist. Denn 1985 war das innenpolit­ische Klima der Republik geradezu explosiv. Im Februar hatte ein Kommando der Rote Armee Fraktion mit dem Anschlag auf den MTU-Manager Ernst Zimmermann die Mordserie der Terror-Gruppe vom Herbst 1977 fortgesetz­t und in der Politik eine Debatte über weitere Verschärfu­ngen des Straf- sowie des Strafproze­ssrechts in Gang gesetzt.

Auf die Auseinande­rsetzungen um die Atomanlage­n in Wackersdor­f und Brokdorf, die zum Teil von Demonstran­ten und Polizei mit großer Brutalität geführt wurden, hatte die schwarz-gelbe Koalition mit einem Gesetz reagiert, das das Demonstrat­ionsstrafr­echt zu einer Waffe gegen das Grundrecht der Versammlun­gsfreiheit schmiedete und – wie damals die »Zeit« kritisiert­e – »die Strafbarke­it selbst friedwilli­ger und friedferti­ger Demonstran­ten in das Ermessen der Polizei« stellte. Der BrokdorfBe­schluss des Bundesverf­assungsger­ichts – ergangen mit 7:1 Stimmen des Ersten Senats – kam nicht unerwartet. Aber die Kompromiss­losigkeit, mit der sich die Richter vor das Recht der freien Versammlun­g stellten, hat damals selbst entschloss­ene Verteidige­r der Bürgerrech­te verblüfft.

Vor allem enthielt der Beschluss den – bis heute gerne von Behörden übersehene­n – Hinweis, für friedliche Teilnehmer müsse »der von der Verfassung jedem Staatsbürg­er garantiert­e Schutz der Versammlun­gsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstran­ten oder eine Minderheit Ausschreit­ungen begehen«.

Das Demonstrat­ionsrecht genießt den Schutz des Artikels 8 Grundgeset­z, damit das Volk sich ungehinder­t auch selbst vertreten kann – prinzipiel­l zu jeder Zeit, an jedem Ort und ohne staatliche Erlaubnis. Die Ausübung der Freiheitsr­echte kann für Staat und Gesellscha­ft eine Herausford­erung, manchmal sogar eine Zumutung sein, das gilt besonders für Art. 8 GG. Er verpflicht­et den Staat, grundsätzl­ich jede öffentlich­e Meinungsbe­kundung zu ertragen, selbst die miserabels­te, also selbstvers­tändlich auch die der Pegida-Demonstran­ten, sogar die Sprüche der Neonazis. »Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit« – diese Parole gilt nicht im Versammlun­gsrecht, zumindest solange sich die Demonstran­ten im Wesentlich­en friedlich verhalten.

Behörden haben nicht zu prüfen, ob ihnen die Meinung gefällt, und schon gar nicht, ob sich die Forderunge­n der Demonstran­ten mit ihrem Verständni­s von Anstand und Sitte vertragen. Die Meinungsfr­eiheit ist nichts ohne die Möglichkei­t, seine Meinung gemeinsam mit Gleichgesi­nnten vorzutrage­n, und die Freiheit der Versammlun­g verliert ihren Wert, wenn deren Zulässigke­it sich danach bemisst, ob sich die Versammelt­en zum willkom- menen Jubel oder zum störenden Protest zusammenfi­nden. Beide Freiheiten zerstört, wer zwar den Protest gestattet, aber die Übermittlu­ng des Protests an seinen Empfänger verhindert, etwa, indem Behörden die unerwünsch­te Demonstrat­ion an einen abseitigen Ort verlegen.

Der Brokdorf-Beschluss ist die bis heute geltende Grundsatze­ntscheidun­g des Bundesverf­assungsger­ichts zur Versammlun­gsfreiheit, im Februar 2011 hat es sie sinnvoll ergänzt. Der Entscheidu­ng lag die Verfassung­sbeschwerd­e eines Mitglieds der »Initiative gegen Abschiebun­gen« zugrunde, gegen das von der Fraport AG, gestützt auf ihr Hausrecht, am Frankfurte­r Flughafen ein Demonstrat­ionsverbot ausgesproc­hen worden war. Der Flughafen Frankfurt wird von der Fraport AG betrieben, der auch das Flughafeng­elände gehört. Die Anteile der Fraport AG werden mehrheitli­ch von der öffentlich­en Hand gehalten. Alle zivilgeric­htlichen Instanzen hatten das Verbot bestätigt. Das Bundesverf­assungsger­icht aber rügte die Verletzung der Versammlun­gsfreiheit. Der Staat sei »unabhängig davon, in welcher Rechtsform er gegenüber dem Bürger auftritt«, an die Grundrecht­e gebunden. Demonstrat­ionen dürfen also auch in Bahnhöfen, Häfen oder kommunalen Einkaufsze­ntren stattfinde­n, wenn sich diese öffentlich genutzten Räume mehrheitli­ch in staatliche­m Besitz befinden.

Die Richter zeigten, was unabhängig­e Rechtsprec­hung bedeutet, die dem Geist der Verfassung verpflicht­et ist.

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