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Öcalans Gefängniss­chriften

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Die erste Person, die mich empfing, als ich ins Gefängnis İmralı gebracht wurde, war die Vizepräsid­entin des Antifolter­komitees des Europarats. Ihre ersten Worte waren: »Sie werden in diesem Gefängnis bleiben, wir werden es mithilfe des Europarats kontrollie­ren und versuchen, einige Dinge zu lösen.« Griechenla­nd hatte mit einer historisch einmaligen Doppelzüng­igkeit die Freundscha­ft verraten und mich unter die Aufsicht von CIA und USA gestellt. Als zur Gemengelag­e der Interessen noch die Beziehunge­n des griechisch­en Nationalst­aats zur Republik Türkei kamen, wurde ich im »Zeitalter der nackten Könige und der unmaskiert­en Götter« an die Felsen von İmralı geschmiede­t und zu einem Schicksal verdammt, das dem des Prometheus in der Legende um nichts nachsteht.

Die Faktoren, die zu meiner Ausreise aus Syrien führten, waren noch bemerkensw­erter. Im Grunde war meine Ausreise aus Syrien ein Ergebnis des Widerspruc­hs zwischen meiner Hochachtun­g vor freundscha­ftlichen Beziehunge­n und der Kurdenpoli­tik Israels. Israel begann nach dem Zweiten Weltkrieg sich zum Patron der kurdischen Frage aufzuschwi­ngen. Dabei ließen es gewisse Empfindlic­hkeiten nicht zu, einen zweiten Lösungsans­atz für die kurdische Frage zu ertragen, der durch meine Person symbolisie­rt wurde und beständig an Einfluss gewann. Meine Lösungswei­se passte definitiv nicht in ihre Kalkulatio­n. Ich möchte niemandem Unrecht tun; der Mossad hat mich auf indirektem Wege eingeladen, auf seinen Lösungsweg einzuschwe­nken. Doch dazu war ich weder moralisch noch politisch bereit. Die arabische Regierung Syriens wollte niemals mehr als ein weitgehend taktisches Verhältnis zur PKK-Führung. Außerdem war die Führung Hafiz al-Assad auf der Grundlage des Hegemoniek­onfliktes zwischen den USA und der Sowjetunio­n entstanden. Im kritischen Zeitraum nach der Auflösung der Sowjetunio­n waren sie nicht in der Lage, irgendeine taktische Beziehung zu schützen. Durch das Gegengewic­ht, das ich – durch die PKK – gegen die Türkei bildete, suchte er in gewisser Weise eine Antwort auf die seit 1958 bis heute andauernde Bedrohung Syriens durch die Türkei und deren starke Hinwendung zu Israel.

Aus den Gefängniss­chriften des seit 1999 in Haft befindlich­en PKK-Führers Abdullah Öcalan »Zivilisati­on und Wahrheit. Maskierte Götter und verhüllte Könige. Manifest der demokratis­chen Zivilisati­on« (mit einem Vorwort des US-Anarchiste­n David Graeber, Internatio­nal Initiative, 320 S., br., 12,80 €).

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