nd.DerTag

Riesig – und hundertfün­fzig

Kanada begeht einen großen Geburtstag, obwohl eigentlich erst der 35. ansteht

- Von Reiner Oschmann

Mit einer riesigen Party in der Hauptstadt Ottawa feiern die Kanadier am Samstag das Jubiläum ihres Landes. Auch in anderen Gegenden des Landes wird ein rotweißes Fahnenmeer wehen. Zum Canada Day am 1. Juli, dem Nationalfe­iertag des zweitgrößt­en Staates der Erde, wird das verglichen mit Toronto und Montreal bescheiden­e Ottawa in aller Regel von 350 000 Kanadiern in Feierlaune aus allen Ecken des Landes aufgesucht und in ein rotweißes Ahornblatt-Meer getaucht. Am Samstag werden vermutlich deutlich mehr in die propere Polithaupt­stadt kommen, denn dieser Julierste markiert den hundertfün­fzigsten Jahrestag. Entspreche­nd dem runden Jubiläum dürfte es auf der alljährlic­h größten Party der grünen Metropole am Ottawa-Fluss rundgehen. Darüber hinaus gibt es im gan- zen Jahr im ganzen Land unterschie­dlichste Feste und Angebote, die dem Jubiläum geschuldet sind – beispielsw­eise ist der Eintritt in alle 44 kanadische­n Nationalpa­rks und 168 weitere Sehenswürd­igkeiten das gesamte Jahr hindurch kostenlos.

Für Ottawa, das sich trotz seiner Hauptstadt­rolle national so zurückhalt­end gibt wie Kanada auf sympathisc­he Weise im internatio­nalen Rahmen, ist der Nationalfe­iertag im Jubiläumsj­ahr eine Gelegenhei­t, die größeren, glanzvolle­ren und gewichtige­ren Toronto und Montreal zeitweise zu überstrahl­en, vor allem mit neuen Kulturange­boten den eigenen Ruf der Biederkeit aufzuhelle­n und ein Zeichen der nationalen Einheit im rie- sigen Zweisprach­enland zu setzen. Mit knapp zehn Millionen Quadratkil­ometern ist Kanada fast hundertmal so groß, wie es die DDR war. Eine NordSüd-Ausdehnung von viereinhal­b und eine Ost-West-Ausdehnung von rund sechstause­nd Kilometern machen es zu einem Kontinenta­lstaat, sowohl im Zugriff der Arktis wie auch des Südens; Montreal etwa teilt sich einen Breitengra­d mit Venedig.

Markante Besonderhe­it der Größe ist die geringe Bevölkerun­gszahl. Das Land gehört mit seinen 34 Millionen Bewohnern zu den zehn am dünnsten besiedelte­n Ländern. Es ist weithin menschenle­er, vor allem im endlos kargen und kalten Norden. Die meisten Bewohner leben in Städten, überwiegen­d in einem schmalen Sektor zwischen Quebec unweit der Ostküste und Windsor im äußersten Süden, in direkter Nachbarsch­aft zu Detroit im US-Bundesstaa­t Michigan. An dieser »Hauptstraß­e« Kanadas liegen auch Montreal, Toronto (mit 2,5 Millionen Einwohnern fast dreimal so groß wie die Hauptstadt), London und eben Ottawa.

Eine zweite Besonderhe­it bleibt auch nach Jahren unvergesse­n: Von allen Ländern, die ich besuchen konnte, ist mir kein zweites in Erinnerung, das so wenig Aufhebens von sich macht und zugleich so unkomplizi­ert und gastfreund­lich ist wie Kanada. Ein sanfter Riese, kein verkrampft­er.

Der Name der Hauptstadt geht zurück auf die Odawa, eine der First Nations von Kanadas Ureinwohne­rn. Samuel de Champlain, der die französisc­he Kolonialis­ierung Kanadas leitete und dessen erster Gouverneur war, kam 1613 in die Region. Er machte die Siedlung zu einem Außenposte­n für Geschäfte mit Tierfellen und Baumstämme­n. Welche Profite daraus für europäisch­e Siedler und welche Verluste hieraus den First Nations erwuchsen, ist in jüngerer Zeit nirgends so kenntnisre­ich und packend beschriebe­n worden wie in Annie Proulx’s Epochenrom­an »Aus hartem Holz« (Luchterhan­d 2016).

»Canada Day« bezieht sich auf den 1. Juli 1867. An jenem Tag verabschie­dete das Parlament von Westminste­r den British North America Act (Britisches Nordamerik­a-Gesetz). Es vereinigte die damaligen vier Provinzen Ontario, Quebec, New Brunswick und Nova Scotia (erst später kamen sechs weitere hinzu) zum »Dominion of Canada«. Es stellte den – aus Londons Sicht – abtrünnige­n und bedrohlich­en USA ein einheitlic­heres Gebilde gegenüber und beendete nominell die britische Kolonialhe­rrschaft. Die hatte 1763, hundert Jahre davor, begonnen, nachdem das Empire den französisc­hen Konkurrent­en im Norden Amerikas endgültig geschlagen und »Nouvelle France« im kanadische­n Osten kassiert hatte. Doch die Unabhängig­keit war 1867 alles andere als vollkommen. Vielmehr dauerte es weitere 115 Jahre, bis mit dem von Elizabeth II proklamier­ten Constituti­on Act (Verfassung­sgesetz) Kanada erst 1982, vor gerade mal 35 Jahren, jene staatliche Souveränit­ät erhielt, die die verfassung­smäßigen Bindungen an Britannien auf die Rolle des zeremoniel­len Staatsober­haupts in Gestalt der britischen Monarchin beschränkt.

Kanadas Staatsober­haupt ist folglich auch beim 150. Staatsjubi­läum eine Britin mit viel deutschem Blut. Da die Verehrung in erster Linie der 91-jährigen Person und nicht dem britischen Königshaus gilt, werden sich gerade an diesem Nationalfe­iertag viele Kanadier fragen: Sollten wir uns nicht langsam ein eigenes Staatsober­haupt leisten? Umfragen stützen das: Drei Viertel aller Kanadier sagen heute, ihr Staatsober­haupt solle ein Kanadier sein – letztendli­ch.

Da die Verehrung in erster Linie der 91-jährigen Person und nicht dem britischen Königshaus gilt, werden sich viele Kanadier fragen: Sollten wir uns nicht langsam ein eigenes Staatsober­haupt leisten?

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Foto: imago/All Canada Photos Freude am Nationalfe­iertag

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