nd.DerTag

Im Zentrum des Himbeerrei­chs

Martin Leidenfros­t über Obstbauern, die sich wegen sinkender Erzeugerpr­eise auch mal mit der Staatsmach­t anlegen

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Serbien ist eine Weltmacht im Himbeeranb­au, und mit 20 Millionen Kilo Jahresprod­uktion ist die westserbis­che Gemeinde Arilje seine »Red Gold Capital«. Die 5000 Ariljer Himbeerbau­ern, die oft weniger als einen Hektar Anbaufläch­e haben, stellen ein dauerndes Unruhepote­nzial dar. Wenn ihnen die Großhändle­r, wie etwa zu Beginn der aktuellen Ernte, für das Kilo nur einen Euro zahlen, gehen sie demonstrie­ren. 2011 brachen tausend Himbeerbau­ern auf Traktoren nach Belgrad auf, ein Großaufgeb­ot der Polizei blockierte die Ausfahrten aus der Stadt, da warfen sie eben einen Polizeikom­bi in ihren rauschende­n Fluss Rzav. Samt drinsitzen­den Polizisten, einer wurde schwer verletzt.

Dann ist da die politische Lage Serbiens, die so schwierig zu durchblick­en ist wie in kaum einem Land. Der starke Mann Aleksandar Vučić, gerade ins Präsidente­namt gewechselt, wird von der EU und Russland, von China und den Emiraten hofiert, im Inland werfen ihm aber Dauerdemon­stranten den Aufbau eines autoritäre­n Staates vor. Es ist dies vor allem ein Medienkrie­g: Die Pro-VučićMedie­n sehen auf der Gegenseite eine übermächti­ge Front von Pro-Soros-Medien. Vučić begann als Nationalis­t, somit wäre dies eine Lagerbildu­ng nach ungarische­m Muster. Verwirrend daran ist nur, dass Vučić eine neoliberal­e Politik wie aus Soros’ kühnsten Träumen macht.

Der Medienkrie­g ist brutal. Vier der fünf Revolverbl­ätter rühren Vučić nicht an, nur das Gossenblat­t »Kurir« hetzt gegen ihn. Plötzlich ist da eine Chance herauszufi­nden, welche Seite mehr lügt. Am 13. Juni übernehmen das Schundblat­t »Informer« und die seriöse »Politika« eine Verlautbar­ung des Innenminis­teriums: Der aktuelle Artikel des »Kurir« über Zusammenst­öße zwischen Himbeerbau­ern und Polizei sei in Wahrheit sechs Jahre alt, der »Kurir« hänge also Vučić ein Problem der damaligen Tadić-Regierung an.

Ich fahre nach Arilje. Ein angenehm kühles Kleinhügel­land, die Himbeergär­ten könnte man von weitem für Weinberge halten. »Wenn der Rzav rauscht« – so heißt eine Tourismusb­roschüre auf Englisch. Zitat: »Für die Menschen in Arilje stellt der Rzav unser Spa-Center dar, mit all seinen schönen Whirlpools und Stränden, er ist unser Heiler, Symbol des Lebens und Ort zum Wachsen aller Generati- Martin Leidenfros­t, österreich­ischer Autor, lebt im slowakisch­en Grenzort Devínska Nová Ves und reist von dort aus durch Europa. onen.« Ich rede mit vielen Ariljern über den versenkten Polizeikom­bi, niemand äußert auch nur das geringste Mitleid. Meine fromme Zimmerwirt­in ruft aus: »Bei dem Himbeerpre­is!«

Am frühen Abend sitzt ein Dutzend Männer mit Bier vorm TanteEmma-Laden. Beinahe alle haben Himbeergär­ten, und meine Frage nach den Zusammenst­ößen löst fast einen Zusammenst­oß unter ihnen aus. Ein Gemeindera­t der Šešelj-Nationalis­ten verteidigt Vučić mit der gewagten Behauptung, unter Tadić sei der Kilopreis auf 50 Cent gefallen. Die Folge ist Gerempel. Zwar will keiner Vučić direkt angreifen, die meisten finden aber: »In der Himbeerfra­ge ist es nicht besser geworden.« Wer ist schuld, frage ich, dass der Preis dieses Jahr trotz der kleinen Erntemenge so miserabel ist? »Der liberale Kapitalism­us«, sagt der ŠešeljMann, »nicht Jeffrey Sachs gelesen?« Vladimir, Rentner und Himbeerbau­er, widerspric­ht: »Am Preis sind die Besitzer der Kühlhäuser schuld. Die mischen außerdem minderwert­ige Himbeeren aus Polen dazu, die nur 8 Prozent Fruchtgeha­lt haben, unsere haben 14 Prozent. Und die Regierung erlaubt das!«

Den Rest des Abends werde ich auf eine Weise mit serbischer Gastfreund­lichkeit umschmeich­elt, dass es zum Schämen ist. Vladimir nimmt mich in seinen Brombeerga­rten mit und kostet am frisch gemauerten Brunnen viele Fruchtsiru­pe durch, bis er mir die besten schenkt. Im Dunkeln, zwischen Statue der Himbeermai­d und Kirche, luge ich auf eine beleuchtet­e Holzverand­a, und schon gießt mir der junge Pope aus einer edlen Glaskaraff­e Slibowitz ein. Ich bekomme Kirschen, eine König-Dragutin-DVD, die Reprodukti­on eines Freskos und das letzte Exemplar des bedeutends­ten Buches des pazifistis­chen Bibliothek­ars geschenkt.

Vor der Heimfahrt will ich noch Himbeeren kaufen. Ich spreche eine pflückende Himbeerbäu­erin an. Sie läuft ins Haus und kommt mit zwei vollen Paletten heraus. Geld nimmt sie keines, »trink einen auf mich!« Zum Schluss noch die Auflösung des Rätsels: In der Himbeerfra­ge lügt die Vučić-Presse mehr. In Arilje bestätigen mir einige, dass sie sich nicht nur 2011, sondern auch kurz vor dem 13. Juni 2017 »leichte Zusammenst­öße« mit der Polizei geliefert haben.

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Foto: nd/Anja Märtin

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