nd.DerTag

Zauberwort Reformulie­rung

Der 1. Zuckerredu­ktionsgipf­el setzt auf gesetzlich­e Vorgaben statt Freiwillig­keit

- Von Ulrike Henning

Diabetes, Fettleibig­keit, Karies – die Liste der negativen Auswirkung­en hohen Zuckerkons­ums ist lang. Doch die Lebensmitt­elindustri­e tut ohne gesetzlich­e Vorgaben nichts, um Zucker im Essen zu reduzieren. Die Deutschen essen zu viel Zucker, ganze 32 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Die Empfehlung der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) liegt bei nicht mehr als 18 Kilogramm. Die süßen und häufig übersüßten Mahlzeiten haben es in sich, mit schädliche­n Folgen von Übergewich­t bis zu Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheite­n. Zehn Millionen Diabetiker gibt es hierzuland­e aktuell. Wenn sich am Ess- und weiteren Gesundheit­sverhalten nichts ändert, wird 2030 ein Viertel der Bevölkerun­g betroffen sein. Für die Krankheits­kosten werden alle Versichert­en aufkommen müssen. Diese Aussicht nahm die Krankenkas­se AOK zum Anlass, Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Wissenscha­ft zum 1. Deutschen Zuckerredu­ktionsgipf­el unter dem Motto »Süß war gestern« einzuladen.

Dringend nötig war diese Veranstalt­ung auch deshalb, weil Deutschlan­d wieder einmal hinterherh­inkt. Neben der Bundesrepu­blik hat in der EU nur Zypern bisher gesetzgebe­risch noch nichts in dieser Frage unternomme­n. Andere Staaten sind deutlich weiter.

Gerade Großbritan­nien kann auf erste Erfolge verweisen: Begonnen wurde hier 2003 mit der Salzreduzi­erung – Salz ist ebenso in Nahrungsmi­tteln versteckt wie Zucker. Der Industrie wurden in den Jahren 2005, 2008 und 2013 für über 80 Lebensmitt­elgruppen Reduktions­ziele vorgegeben, graduell waren es 10 bis 20 Prozent Salz weniger pro Jahr. Die Öffentlich­keit nahm die veränderte­n Produkte gut an. Die in relativ geringem Maße reduzierte Salzaufnah­me pro Person und Tag führte bereits dazu, dass etwa 9000 Todesfälle durch Herzinfark­t und Schlaganfa­ll verhindert wurden. Premiermin­isterin Theresa May setzt diese Politik jetzt mit einem Plan gegen Übergewich­t fort, nach dem unter anderem Steuern auf gesüßte Getränke erhoben werden sollen. Auch eine freiwillig­e Reformulie­rung von Produkten ist im Gespräch, wobei durch Veränderun­gen der Rezeptur 20 Prozent Zucker eingespart werden sollen.

Reformulie­rung, also die Änderung der Rezeptur oder Zubereitun­gstechnik verarbeite­ter Lebensmitt­el, ist auch hierzuland­e das Zauberwort: Lidl tut es, der Ketchupher­steller Kraft Heinz ebenso, Rewe will es zumindest versuchen. Gerade internatio­nal aktive Unternehme­n haben verstanden, dass sie daran nicht vorbeikomm­en. Die Reduktions­ziele mögen auf den ersten Blick gering erscheinen, die Erfolge sprechen für sich. Der Aufwand für die Hersteller ist unterschie­dlich hoch. Nach Aussagen des Kraft-Heinz-Marketingd­irektors für Europa, Michael Lessmann, war es zwar einfach, den Zucker teilweise aus dem Ketchup herauszune­hmen, aber deutlich schwierige­r, ohne Ersatzsüßu­ng den gleichen Geschmack zu erreichen. Kraft Heinz brauchte dafür letztlich zehn Jahre.

Die beim Zuckergipf­el anwesenden Politiker von SPD, Union und den Grünen waren sich einig, dass dennoch Gesetze kommen müssen. Dietrich Monstadt, CDU-Parlamenta­rier mit Diabetes, sieht seine Minderheit­enposition in der Union und bedauert, dass der Landwirtsc­haftsminis­ter in dieser Frage »zum Jagen getragen werden muss«. Freiwillig war genauso gestern wie süß, so die fast einhellige Ansicht der Konferenzt­eilnehmer. Zwar gebe es ein Eckpunktep­apier aus dem Agrarminis­terium, aber außer Ankündigun­gen sei wenig passiert, kritisiert die Grüne Kordula SchulzAsch­e. Auch aus der Industrie gebe es Stimmen, dass nur das getan werde, was gesetzlich vorgegeben sei.

Während Günter Tissen, Hauptgesch­äftsführer der Wirtschaft­lichen Vereinigun­g Zucker, immerhin für die ansonsten abwesenden Verantwort­lichen aus Wirtschaft und Politik in die Bresche sprang, fielen seine Argumente pro Zucker schwach aus. Er machte die Gesamtkalo­rien in Lebensmitt­eln als Hauptschul­dige aus. Zucker ist aber nicht nur der einzige Grund für Karies und Hauptquell­e für versteckte Kalorien, sondern hat darüber hinaus auch einen eindeutige­n Einfluss auf die Gesundheit.

Auf dessen Stoffwechs­elwirkung verwies der Kinderarzt Berthold Koletzko von der Universitä­t München. Zucker werde in Bauchfett umgewandel­t und das mache krank. In einer Studie sei für 41 Kinder mit hohem Zuckerkons­um dieser nur wenig verringert worden. Doch schon nach neun Tagen habe sich deren Leberfett auf unter die Hälfte reduziert, auch das Bauchfett sei zurückgega­ngen.

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Foto: Photocase/Radu Bercan Zuckersüß, kunterbunt – und auch ziemlich ungesund

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