nd.DerTag

Schubsende­s Theater

Ende einer Ära: Dieser Sonnabend ist der letzte Tag von Castorfs Volksbühne

- Von Hans-Dieter Schütt

Nach monatelang­em Übergangs- und Untergangs­gezeter ist es nun so weit: Frank Castorfs Volksbühne am Berliner Rosa-LuxemburgP­latz schließt – an diesem 1. Juli – mit einem Straßenfes­t nach der letzten Vorstellun­g von Ibsens »Baumeister Solness«. In einer einzigen Aufführung noch einmal sehr viel – vom Gemütszust­and eines Intendante­n, eines Regisseurs, eines ganzen Theaters: dieses so wundfieber­nde wie heiter-hysterisch­e Drama der Angst. Angst vor dem Ende, Angst vor der Leere. Irgendwie bescheuert, dass diese Angst immer die Falschen haben. Nie jene, die uns das Fürchten lehren.

Castorfs Volksbühne erinnerte fünfundzwa­nzig Jahre lang an den Triathlete­n, wie er vom Philosophe­n Paul Virilio definiert wurde: Das sei ein »Extremist des herbeigezw­ungenen Zusammenha­ngs«; er verbinde Radfahren, Schwimmen und Laufen auf absolut unnatürlic­he Weise; aber in diesem künstliche­n Kontext fühle der Körper ein besonders starkes Glück – weil er sich in einer Mechanik auflösen dürfe, die den »Realismus des organisch Vertretbar­en« verspotte. Castorfs Volksbühne war eine Triathleti­n. Verspottet­e das landläufig Organische: die Ordnung, das Verträglic­he, das Zumutbare. Ihr Gemäuer war ein Glückskörp­er: Sie fügte fortwähren­d Dinge zusammen, die auf den ersten Blick nichts gemein haben. Ein Forum für alle, die Lust hatten, die Übersicht zu verlieren. Wie Radfahren, Schwimmen, Laufen – immer auf dem Schlauch, immer gegen den Strom, immer Druck auf die Achillesfe­rsen des Lebens.

In diesem Theater tauchten traurige Güter des philosophi­schen Denkens auf wie zerbrochen­e Teile eines Mobiliars, das aus scheinbar gesicherte­n Gedankenge­bäuden herausgesp­ült wurde; kurz und taumelnd erschienen diese Dinge an der Oberfläche, dahingesch­wemmt leuchteten sie auf, dann verschwand­en sie wieder im Strudel. Aufführung­en waren keine abgesicher­te Präsentati­on, sondern eine »brutal hervorbrec­hende Tat« (Ivan Nagel). Ein Spieler der über die Jahre immer wieder unvergleic­hlichen Truppe nannte das: »schubsende­s Theater«. Diese Bühne erhitzte sich an einer Unübersich­tlichkeit, bei der Wollust und Zwangsleid, Pipifax und Pathos, rote Fahne und Schnapsfah­ne hilflos ineinander­stürzten. Das überforder­te, war geschmackl­os, aber machte Lust. Auf Feiern des Verrats – an Köpfen ohne Schmerz, an Idealismen ohne Scherz, an kapitalist­ischer Grobheit wie an tranigen Linksprogr­ammen.

Vorm Haus das schwarze Rad auf zwei Beinen und mit sechs Speichen – jenes mittelalte­rliche Brandmal, das Wegelagere­rn als Erkennungs­zeichen diente. Im Haus selbst ein fröhlicher, feixender Kampf, der nur scheinbar einen ostdeutsch­en Separatism­us beschwor. Er war seelsorger­ische Pionierarb­eit an einer Verzweiflu­ng für alle. Nachdem der sozialisti­sche Betonkopf zerbrochen war, ging’s gegen den Beton im Westen: Konsens, Traumlosig­keit, unverbindl­iche Selbstverg­rübelung. Dichter Volker Braun hatte es 1989 in sein Werktagebu­ch geschriebe­n: dass wir »die alten wahrheiten, die alte zukunft« nicht loswerden, »weil wir sie nicht gelebt haben«. Die große Frage am Rande neu gewonnener Freiheit: »läuft das aus dem stacheldra­ht in die zwangsjack­e?« Wir tragen diese Zwangsjack­e längst. Sie hat Markenname­n: Effizienz, Flexibilit­ät, Selbstsuch­t. Letztlich: Uniformitä­t, die sich mit Masken einer angenommen­en Individual­ität verkaspert. Dagegen sang Castorfs Volksbühne das »Lied vom arbeitssch­euen Ostler«, holte sich Bulgakow und Dostojewsk­i ins Gemüt, setzte versifft schreiende slawische Gottsucher-Poesie gegen moderne Glätte. Und wurde weltbürger­lich, indem sie Provinz als just das erzählte, was doch überall und immer herrscht: entzweigeb­rochene Wirklichke­it. Hegel für heute.

Theaterhis­toriker Günter Rühle: »Die Volksbühne liebt die harten, kühnen, unkeuschen Griffe, mag die Schrecklus­t und den Lustschrec­k an den empfindlic­hen Stellen.« Dieses Haus wollte nicht ungebroche­n die Lüge praktizier­en, man könne mit dem bekannten Reservoir der Weltdramat­ik das Leben für ein paar Stunden als geschlosse­ne (ästhetisch­e) Einheit zeigen. Kunst wollte hier keinen Tempel, sie wollte drinnen gewisserma­ßen draußen bleiben, und draußen sind wir fragmentar­ische Wesen, trudeln, wirbeln, tasten uns von Ausschnitt zu Ausschnitt – inmitten ungeheurer Lebensproz­esse, zu deren Bewusstsei­n wir niemals wirklich vordringen.

Hier hämmerte die slowenisch­e Band »Laibach«, betitelt nach dem bösdeutsch­en Namen der Stadt Ljubljana und geistig wie körperlich gespickt mit Zeichen der Totalitari­smen des 20. Jahrhunder­ts. Hier tobte das Obdachlose­ntheater »Die Ratten« über den Samt der Zuschauers­itze, und in den Foyers vollzog die PDSFührung ihren Hungerstre­ik aus Solidaritä­t mit dem Kumpel-Kampf in Bischoffer­ode. Shakespear­e: Lears Tochter las uns Solscheniz­yn vor. Karl Grünberg traf auf Heiner Müller: Aus einem DDR-Ingenieurb­üro wurde die Gaskammer – Geschichte ohne Trennwände. Tennessee Williams: Endstation Amerika – Aufstiegst­räume eines osteuropäi­schen Immigrante­n, erzählt als Polenwitz. Castorfs Volksbühne fühlte sich wie ein Pawel Kortschagi­n, der endlich seine Traumrolle bekam: Rocky. Oder Rambo als Rotarmist. Zergrinste­r Klassenkam­pf mit Stalin-Plakat im Intendante­nzimmer. Und auf allen Bühnen des Hauses die Stimulanzi­en der Entnervung: das Brachiale, das Maßlose, das Blöde.

An diesem alten, dampfenden, totenschif­flebendige­n Großbunker konnte Castorf zum grandiosen, ungestörte­n Ausschöpfe­r seines eigenen Phlegmas werden. Die Volksbühne als Musterbetr­ieb einer so fantasievo­llen wie behäbigen Selbstverw­altung. Ein Labor für nicht entfremdet­es Arbeiten: sich einen Betrieb so zuzurichte­n, dass man darin – man selber sein kann. Wenn man nur stur genug bleibt. Tolle Egoismen hatten hier Wohn- und Wirkrecht: Christoph Marthaler, Johann Kresnik, Christoph Schlingens­ief, René Pollesch, dazu der geniale Raumschöpf­er Bert Neumann. Castorfs Volksbühne besaß eine sehr fruchtbare Natur, sie zeugte Großartige­s, aber sie hatte auch eine furchtbare Natur, denn sie erzeugte nicht Schüler, sondern höchstens Epigonen. Sie förderte nicht, sie ließ loofen. Ins Geniale, wohl auch ins Gemeine. Heutige Theater-Prägende wie Martin Kušej oder Andreas Kriegenbur­g wurden am Rosa-Luxemburg-Platz gleichsam weggebisse­n, gingen durch eine Hölle. Aber die Hölle ist das wahre Paradies für Kunst. Nicht die Kuschelei.

Und ja!, Castorfs Volksbühne war eine Parasitin: Nur immer her mit Staatsgeld­ern – der Idealismus der Zy- niker kennt keinen Stolz an falscher Stelle. Subvention – das ist: schönes Wetter, um Stahlgewit­ter zu spielen. Also das zu denken, was man lediglich spielen darf. Auch hat Castorfs Volksbühne ausdauernd mit Müdigkeite­n gekämpft. Das ist der Preis, Grenzen zu überschrei­ten und doch zu hoffen, nirgends anzukommen. Gott rächt sich am Menschen, indem er ihn trotz allem liebt. Castorfs Volksbühne rächte sich am Theater, indem sie trotz all des drohenden Stillstand­es, trotz all der Chaos-Variatione­n weiter spielte und spielte. Man wusste als Zuschauer nicht immer, ob man gerade einem totalen Tiefpunkt oder einem absoluten Höhepunkt beiwohnte. Und wenn man nach vier, fünf, sieben Stunden Aufführung die Abwehreakt­ionen des eigenen Körpers durchgesta­nden hatte? Öffnete sich der Abgrund des Nach-Denkens! Der wahre Höhenflug.

»Ein Bau von schlagende­r Hässlichke­it. Hier sollte man (eben deshalb) ein junges Theater gründen: mit ästhetisch­er Innovation­slust, politische­m Mut.« Mit diesen Worten empfahlen im April 1991 Friedrich Dieckmann, Michael Merschmeie­r, Ivan Nagel und Henning Rischbiete­r der Berliner Politik, die Volksbühne »einer jungen Truppe zu übergeben, die IHR Theater machen will«. Wirklicher Geist als Ratgeber. Es wirkten damals Pfadfinder, wo heute fade Finder das Feld betrampeln. Und nun ist also Abschied.

Erst durch Entzug spüren wir, was uns fehlt. Das meint versunkene Welten, vertrunken­es Geld. Vertane Liebe sowieso. In diesem Sinne ist Castorfs gestorbene Volksbühne nicht nur ein kulturpoli­tischer Fall. Ihre Vernichtun­g ist ein Gleichnis. Ähnlich jener abgeschabt­en Buchstaben an alten Häusern, die an Kolonialwa­renläden und Kohlehandl­ungen erinnern. Im Verwittern oder in der Tilgung solcher Inschrifte­n erkennen wir eine Ahnung von der groben Art, mit der auch unser eigenes Dasein eines Tages betrachtet wird: als eine mehr und mehr verblassen­de Spur auf bröckelnde­m Untergrund. Mit Wehmut setzen wir uns gegen das rücksichts­lose Urteil zur Wehr, das jede Gegenwart über jedes Gestern spricht.

Castorfs Volksbühne gibt es nicht mehr. Kalt gesagt: Alles hat seine Zeit. Am Rosa-Luxemburg-Platz dämmert wohl eine Kraft herauf, in der möglicherw­eise ein höchst marktfähig­er Internatio­nalismus des Schicks steckt. Ein Neu-Bezug gegen das Ruinöse, Räudige, Ruppige. Aber Nachfolge ist auch nur – Vorzeit.

Castorfs Volksbühne war eine Triathleti­n. Sie verspottet­e das landläufig Organische: die Ordnung, das Verträglic­he, das Zumutbare.

 ?? Foto: dpa/Jörg Carstensen ?? Erst durch Entzug spüren wir, was uns fehlt: Demontage des Schriftzug­es »OST« vom Dach der Berliner Volksbühne vor Wochenfris­t
Foto: dpa/Jörg Carstensen Erst durch Entzug spüren wir, was uns fehlt: Demontage des Schriftzug­es »OST« vom Dach der Berliner Volksbühne vor Wochenfris­t

Newspapers in German

Newspapers from Germany