nd.DerTag

Wie ein Weltall

- Von Hans-Dieter Schütt

Konsequenz

spaltet. Und konsequent ist Martin Kušej. Er sucht bei Dichtern das, was sie unsterblic­h hält: dämonische Chirurgie und Einverstän­dnis mit der Tatsache, dass jeder, jeder (!) Erhabenhei­t ein Abgrund entspricht. Leider ist dies die Balance der Welt. So hat er Shakespear­e inszeniert und Ibsen, Goethe und Büchner, Schnitzler und Nestroy. Seit 2011 leitet er das Münchner Residenzth­eater – ab September 2019 wird er Europas größter Schauspiel­bühne vorstehen, dem Wiener Burgtheate­r. Er wird ein Haus übernehmen, das nach großem Finanzskan­dal genesen musste. Das Ensemble: abgespeckt. Im Gemäuer: ein Geist zwischen Furcht und Lust auf Fanale.

Kušej wurde 1961 im österreich­ischen Kärnten geboren, in Nachbarsch­aft zu Griffen, wo Peter Handke herkommt. Der Regisseur gründete 1990 die freie Gruppe »my friend martin«: Theater und Installati­on in fahrenden Bussen, reißenden Flüssen; Publikumsp­einigung für den guten Zweck der Austreibun­g – aus herzlähmen­den Kunsttempe­ln. Und eine Art antibürger­licher Abenteueru­rlaub. Eine Arbeit hieß »Franz Falsch F Falsch Dein Falsch Nichts Mehr, Stille, Tiefer Wald ...«.

Regisseur war er an großen Häusern, führte erfolgreic­h Opernregie in Salzburg, leitete dort das Schauspiel. Seine Kunst gletschert die Zeit ein, um sie quasi mit Blutstropf­en wieder aufzutauen: ein ewig unabänderl­iches Martyrium. Er inszeniert Nacht, durch die nur ein Horrorund Höllenblic­k dringen kann. Just an der Burg brillierte er vor Jahren mit Grillparze­r – und Karl Schönherr: »Glaube und Heimat«. Hinter Lawinen aus Regen oder Schlamm oder Nebeln dünne Wehmutsmel­odien. Die Men- schen bleiben am Leben, ohne überhaupt leben zu können. Sie suchen die Wahrheit – mit dem traurigen Wissen, sie niemals lieben zu können. Sein Salzburger Hamlet sprach »Sein oder Nichtsein«, da öffnete sich die Erde, die Bühnenbode­nplatten wurden aus den Halterunge­n gelöst; der Mensch wie auf einer einsamen Eisscholle auf dunklem Meer. Am Ende ragte aus dem Untergrund eine Zombie-Hand heraus: Grüß Gott!

Vor zehn Jahren schrieb er über die Festung Europa: »Rundherum der europäisch­e Stacheldra­htverhau; Boykott, Ächtung, Eiszeit. Die Bürgerlich­en, die (mit reinem Gewissen?) in das eigene Jammertal blicken, worauf warten sie? Wut und Angst in mir. Also: Mit der Brechstang­e eine gerade Linie ins Labyrinth der Gefühle schlagen!« Das ist Sinn und Sinnlichke­it von Kušejs Theater. Ein Mann, der von Macht und Poesie gleicherma­ßen etwas versteht. Das Bühnenbild, von dem er träumt? Antwort dieses ehemaligen Handballsp­ielers in einem nd-Interview: »der Weltraum«. Der heißt bald Wien.

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Foto: imago/Stefan M. Prager Martin Kušej

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