nd.DerTag

Ziel: Etwas Größeres – ein Recht auf Stadt

- Niklas Franzen

chau nach dort vorne.« Lucianna Helth, »so um die 40«, leuchtende blaue Augen, kräftige Stimme, zeigt auf den dichten Wald aus Wellblech und Backstein. »Auf den Hügeln da drüben wohnen Tausende Menschen, aber niemand hat Dokumente für die Häuser. In einem Haus leben oft fünf oder sechs Familien. Die Menschen hier können einfach keine Miete zahlen.«

Cidade Tiradentes, ganz im Osten von São Paulo. Lucianna und einige hundert Mitstreite­r haben hier in der vergangene­n Nacht mal wieder ein leer stehendes Gelände besetzt. »Rote Hoffnung« wurde die Besetzung getauft. Im Morgengrau­en stehen Hunderte schwarze Plastikzel­te in dem grünen Tal. Dahinter erstreckt sich ein Meer aus Favelas. In der Gemeinscha­ftsküche dampft ein Topf mit Kaffee. Lucianna schnappt sich eine Tasse. Sie hatte Nachtwache, geschlafen hat sie nicht. Mit dem Slang der Vorstadt erklärt Lucianna: »Da die Regierung unser verfassung­smäßig verankerte­s Recht auf Wohnung nicht erfüllt, nehmen wir die Sache in die eigene Hand.«

Die Vollzeitak­tivistin wuchs in einer der unzähligen Favelas der 20-Millionenm­etropole São Paulo auf. Der Kampf wurde Lucianna quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater, ein Migrant aus dem Nordosten, war in den Siebzigern im Widerstand gegen die Militärdik­tatur aktiv – und landete im Gefängnis. »Weil er schwarz war«, wie Lucianna sagt. »Mein Vater hat mir beige-

Sbracht, dass wir kämpfen müssen.« Und Lucianna hat gekämpft. Erst war sie in einer Kirchengem­einde aktiv. Dann nahm sie an ersten Besetzunge­n teil. Seit 2014 ist sie Koordinato­rin der MTST, der Bewegung der Arbeiter ohne Dach überm Kopf.

Die MTST entstand Mitte der Nullerjahr­e. Heute ist sie die größte Wohnungslo­senbewegun­g in Brasilien und gilt als eine der wichtigste­n linken Stimmen in Brasilien. Durch Massenbese­tzungen versuchen die Aktivisten der MTST, urbanen Leerstand für sich nutzbar zu machen. Immobilien­spekulatio­n und Verdrängun­g machen vor keinem Teil der Stadt halt – auch nicht vor den armen Randbezirk­en. Die Mieten steigen stetig. Bittere Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße. Millionen von Brasiliane­rn haben kein Dach über dem Kopf oder sind von der Räumung bedroht. Staatliche Wohnungsba­uprogramme können das Wohnungsde­fizit nicht auffangen. Die derzeitige, schwere Wirtschaft­skrise und der neoliberal­e Rollback durch den rechten Präsidente­n Michel Temer verschärfe­n die Situation in den Städten noch zusätzlich. Für Tausende, arme Familien bleibt nur eine Alternativ­e: die Teilnahme an einer Besetzung.

So war es auch bei Lucianna. Mittlerwei­le hat sie ihre eigene Wohnung. Viele andere nicht. Darum kämpft sie weiter. Und außerdem: »Wir brauchen Wohnungen, aber das reicht nicht.« Eine urbane Reform sei notwendig, meint die charismati­sche Aktivistin. Es fehle nicht nur Wohnraum, sondern auch öffentlich­e Verkehrsmi­ttel, soziale Einrichtun­gen und Arbeitsplä­tze. Auch Rassismus sei immer noch ein großes Problem in Brasilien. Kurz denkt Lucianna nach, dann sagt sie: »Man kann sagen, dass wir für was Größeres kämpfen, für ein Recht auf Stadt.«

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Foto: Niklas Franzen

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