Ziel: Etwas Größeres – ein Recht auf Stadt
chau nach dort vorne.« Lucianna Helth, »so um die 40«, leuchtende blaue Augen, kräftige Stimme, zeigt auf den dichten Wald aus Wellblech und Backstein. »Auf den Hügeln da drüben wohnen Tausende Menschen, aber niemand hat Dokumente für die Häuser. In einem Haus leben oft fünf oder sechs Familien. Die Menschen hier können einfach keine Miete zahlen.«
Cidade Tiradentes, ganz im Osten von São Paulo. Lucianna und einige hundert Mitstreiter haben hier in der vergangenen Nacht mal wieder ein leer stehendes Gelände besetzt. »Rote Hoffnung« wurde die Besetzung getauft. Im Morgengrauen stehen Hunderte schwarze Plastikzelte in dem grünen Tal. Dahinter erstreckt sich ein Meer aus Favelas. In der Gemeinschaftsküche dampft ein Topf mit Kaffee. Lucianna schnappt sich eine Tasse. Sie hatte Nachtwache, geschlafen hat sie nicht. Mit dem Slang der Vorstadt erklärt Lucianna: »Da die Regierung unser verfassungsmäßig verankertes Recht auf Wohnung nicht erfüllt, nehmen wir die Sache in die eigene Hand.«
Die Vollzeitaktivistin wuchs in einer der unzähligen Favelas der 20-Millionenmetropole São Paulo auf. Der Kampf wurde Lucianna quasi in die Wiege gelegt. Ihr Vater, ein Migrant aus dem Nordosten, war in den Siebzigern im Widerstand gegen die Militärdiktatur aktiv – und landete im Gefängnis. »Weil er schwarz war«, wie Lucianna sagt. »Mein Vater hat mir beige-
Sbracht, dass wir kämpfen müssen.« Und Lucianna hat gekämpft. Erst war sie in einer Kirchengemeinde aktiv. Dann nahm sie an ersten Besetzungen teil. Seit 2014 ist sie Koordinatorin der MTST, der Bewegung der Arbeiter ohne Dach überm Kopf.
Die MTST entstand Mitte der Nullerjahre. Heute ist sie die größte Wohnungslosenbewegung in Brasilien und gilt als eine der wichtigsten linken Stimmen in Brasilien. Durch Massenbesetzungen versuchen die Aktivisten der MTST, urbanen Leerstand für sich nutzbar zu machen. Immobilienspekulation und Verdrängung machen vor keinem Teil der Stadt halt – auch nicht vor den armen Randbezirken. Die Mieten steigen stetig. Bittere Konsequenz: Immer mehr Menschen landen auf der Straße. Millionen von Brasilianern haben kein Dach über dem Kopf oder sind von der Räumung bedroht. Staatliche Wohnungsbauprogramme können das Wohnungsdefizit nicht auffangen. Die derzeitige, schwere Wirtschaftskrise und der neoliberale Rollback durch den rechten Präsidenten Michel Temer verschärfen die Situation in den Städten noch zusätzlich. Für Tausende, arme Familien bleibt nur eine Alternative: die Teilnahme an einer Besetzung.
So war es auch bei Lucianna. Mittlerweile hat sie ihre eigene Wohnung. Viele andere nicht. Darum kämpft sie weiter. Und außerdem: »Wir brauchen Wohnungen, aber das reicht nicht.« Eine urbane Reform sei notwendig, meint die charismatische Aktivistin. Es fehle nicht nur Wohnraum, sondern auch öffentliche Verkehrsmittel, soziale Einrichtungen und Arbeitsplätze. Auch Rassismus sei immer noch ein großes Problem in Brasilien. Kurz denkt Lucianna nach, dann sagt sie: »Man kann sagen, dass wir für was Größeres kämpfen, für ein Recht auf Stadt.«