»Ich bin nicht arbeitslos, ich habe drei Jobs«
Wenn
Michael Campbell seine Baseballmütze abnimmt, dann sind ihm seine 53 Jahre deutlich anzusehen. Der Haarausfall habe sich während der großen Rezession beschleunigt, sagt er deprimiert. Doch dann hellt sich sein Gesicht mit den Worten »das Schlimmste ist überstanden« wieder auf.
Campbells erste Lebenshälfte war von einem langsamen, steten sozialen Aufstieg gekennzeichnet. Im Bundesstaat Indiana, wo sich seine Mutter nach dem frühen Tod des Vaters mit Putzjobs abrackerte, konnte Campbell nach der Automechanikerprüfung bei Borg-Warner anfangen. Der Teilehersteller und Zulieferer für Ford zahlte anständige Stundenlöhne von 25 Dollar und mehr. Und sorgte mit fairen betrieblichen Sozialleistungen dafür, dass sich die meisten Mitarbeiter ihren Traum von der »middle class« erfüllen konnten: ein hypothekenfinanziertes Häuschen, ein Auto. »Alles auf Pump zwar«, sagt Campbell rückblickend, »aber kein Problem, die Monatsraten abzuzahlen.«
Doch Anfang der Nullerjahre begann der Betrieb mit dem »Downsizing«. Bei Ford, dem größten Kunden von Borg-Warner, kriselte es. Der Autoriese reduzierte die Bestellungen für die Verteilergetriebe. Die Mitarbeiter mussten die Kürzung der betrieblichen Renten- und Krankenversicherung hinnehmen. Die Gewerkschaft United Autoworkers (UAW) beschränkte sich aufs Abfedern. »Mehr als eine Protestkundgebung vor dem Betriebstor gab es nicht«, sagt Campbell. Der Betrieb trug der UAW später an, den Mitarbeitern die Alternativen zu verdeutlichen: entweder jedes Belegschaftsmitglied würde eine Abfindung erhalten oder die Älteren würden mehr Betriebsrente erhalten. Eine Mehrheit plädierte für die Abfindung. »An einem Donnerstagmorgen erfolgte dann, was alle seit Monaten befürchteten«, er- zählt Campbell. Über Lautsprecher verkündete ein Firmensprecher, dass der Betrieb im April 2009 schließen werde. Für die fast 800 Lohnabhängigen und ihre Angehörigen war der Traum von der Mittelschicht geplatzt.
Auch für Campbell.
Er verkaufte sein Häuschen unter Preis. Ein halbes Jahr lang erhielt er Arbeitslosenhilfe – »etwas über 1000 Dollar pro Monat, das war die Miete«, sagt er. Verfügbar waren nur Billiglohnjobs, etwa bei Walmart und McDonald’s. Mit Schrecken beobachtete Campbell, wie manche seiner gekündigten Kumpels ins illegale Crystal-Meth-Geschäft einstiegen.
Von den 30 000 Dollar Abfindung besorgte sich Campbell einen HondaSiebensitzer, den er zum mobilen Werkzeugkasten und Büro umbaute. Damit tingelt er heute durch die Bezirke, wo »die mit mehr Geld« leben. Er repariert der oberen Mittelschicht die Dächer, flickt ihre Rohre und schneidet Hecken. »Arbeitslos bin ich nicht, im Gegenteil«, wiederholt Campbell einen bitteren Witz, der seit Jahren kursiert und seine Aktualität nicht verloren hat, »ich habe sogar drei Jobs« – und alle sind unterbezahlt.
Von dem Einkommen, das ihm die Schwarzarbeit einbringt, zweigt Campbell monatlich zweihundert Dollar ab. Die steckt er in einen Aktienfonds, der ihm vielleicht einmal den Ruhestand ermöglicht – »oder zumindest dafür sorgt, dass ich im hohen Alter nicht in Mülltonnen nach Essen wühlen muss«. Michael Campbell, Geringverdiener in den USA