Geflecht der Macht
Knapp 150 Konzerne dominieren den größten Teil der Weltwirtschaft. Mehr als drei Viertel von ihnen sind dem Finanzsektor zuzurechnen.
Für Rudolf Hilferding war die Sache entschieden. Das Kapital aus Industrie und Banken verschmilzt zum Finanzkapital, schrieb der Marxist und spätere sozialdemokratische Finanzminister: »Kapital in der Verfügung der Banken und in der Verwendung der Industriellen«. Das engmaschige Netz zwischen Banken und Industrie in Deutschland um 1900 analysierten neben sozialdemokratischen auch kommunistische Autoren wie Lenin und konservative Wissenschaftler wie Otto Jeidels oder Jakob Riesser, die selber als Bankiers tätig waren. Doch erst der Berliner Historiker Kurt Gossweiler wird »Gruppen« erkennen, die sich innerhalb des Finanzkapitals um einzelne Großbanken herum gebildet haben.
Eine enge Verflechtung der Konzerne ist kein exklusiv deutsches Phänomen. Aber sie ist hierzulande traditionell besonders ausgeprägt – infolge des Universalbank-Systems. Es erlaubt Banken alle Finanzgeschäfte, vom Darlehen an Handwerker und Häuslebauer über Spekulation auf eigene und fremde Rechnung an der Börse bis hin zum Versicherungs- und Industriegeschäft.
Im angelsächsischen Sprachraum herrschte dagegen ein TrennbankSystem, das Handelskredit und Aktiengeschäft strikt trennt, Banken von Industrie und Versicherungen fern hielt und Finanzinstitute sogar räumlich einschränkte. In den USA wurde das Trennbanken-System 1999 unter Präsident Bill Clinton aufgeweicht.
Grundsätzlich hegt ein Trennbanksystem die Macht der Banken ein. Darum wird es von Linken gerne als Alternative zum Universalbanksystem angesehen. Und diese Grenzen dürften ein Grund dafür sein, warum sendungsbewusste Ex-Banker von Goldman Sachs gerne in die Politik gehen oder zu Notenbanken wechseln.
Gossweiler warf mit seinen Finanzgruppen noch eine andere Frage auf: Wer (dominiert) wen? Gilt es unter traditionsbewussten Marxisten bis heute als ausgemachte Sache, dass die materielle Produktion, also die Industrie, eine führende Rolle im Finanzkapital innehat, legte der vor allem als Faschismus-Forscher bekannte Gossweiler mit »Großbanken, Industriemonopole, Staat« 1971 eine historische Studie vor, die den Banken eine Führungsrolle zuschrieb. Den im Mai im Alter von 99 Jahren Verstorbenen machte die darum geführte Kontroverse mit Jürgen Kuczynski in der DDR zum Außenseiter.
Zu jener Zeit versammelt sich in der Bundesrepublik um den Bremer Wirtschaftswissenschaftler Jörg Huffschmid eine Gruppe junger Wissenschaftler, von denen einige Gossweilers Thesen fortschreiben. Der heutige sozialdemokratische Bürgerschaftsabgeordnete Arno Gottschalk und der Autor dieser Zeilen legten umfassende Untersuchungen über die personellen und stimmrechtlichen Verflechtungen der Großbanken vor. Die Empirie bestätigt Gossweilers historische Thesen für die Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre hinein.
Es sind weniger der »harte« Beteiligungsbesitz als die »weichen« Faktoren Depotstimmrecht und Aufsichtsratsposten, auf denen sich die Verflechtung der Wirtschaft und die Macht der Banken gründen. Oftmals vertrat allein die Deutsche Bank eine Sperrminorität von 25 Prozent – nichts geht gegen ihren Willen. Dabei stammte nur ein geringer Teil der Stimmen aus eigenen Kapitalbeteiligungen an Daimler, Siemens oder Thyssen. Entscheidend war der Hebel des Depotstimmrechts, bei dem der private oder institutionelle Aktieneigentümer sein Stimmrecht per Vollmacht faktisch an die Bank abtritt. Gleichzeitig kontrollierten sich die Vorstände der Großbanken dadurch selber.
Depotstimmrechte, Kapitalbeteiligungen und Geschäftsbeziehungen spiegeln sich auf einer Ebene wider – den personellen Verflechtungen. In dieses menschliche Netzwerk hatten drei Großbanken vor zwei Jahrzehnten 2145 Personen eingespannt. Diese Wirtschaftselite hatte 8129 Posten in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik inne. Die »Deutschland AG« stand am Zenit ihrer vernetzten Macht.
In den neunziger Jahren lösten sich die engen Bande der Deutschland AG. Shareholder-Value, die Ausrichtung der Unternehmen an Aktienkursen sowie an kurzfristigen, hohen Renditezielen und die Globalisierung internationalisierten die wiedervereinigte deutsche Wirtschaft. Neue, ausländische Kapitalinteressen, Fonds und angelsächsische Investmentbanken drangen auf den deutschen Kapitalmarkt vor.
Doch gleichzeitig zog es deutsche Konzerne, die seit dem Kriegsende lange Nachholbedarf bei der Internationalisierung hatten, verstärkt über die Grenzen hinaus. Die manchmal jahrzehntelang gehaltenen Rundum-Kapitalbeteiligungen innerhalb der Deutschland AG galten nun als zu wenig profitabel.
Die Politik half. Seit der Bundestagswahl 1998 hatten sich SPD und Grüne einer alten linken und liberalen Forderung angenommen und wollten die Deutschland AG entflechten. Diese hatte stimmungsmäßig noch die Wirtschaftsära Helmut Kohls geprägt. Der fließende, internationale Kapitalmarkt sollte nun die Oligarchie hinwegfegen, der Wirtschaft neue Wachstumsimpulse schenken und zugleich die Macht der Banken zerschlagen. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte solche – je nach Standort – Hoffnungen oder Befürchtungen durch die Berufung eines der profiliertesten Bankenkritiker, Hans Martin Bury, zum Staatsminister genährt. Bury wird später für die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers arbeiten.
Der hegemoniale Block aus Regierung, Parteien, gesellschaftlichen und unternehmensnahen Lobbygruppen entsprach im Oktober 2000 mit seiner entscheidenden Reform der Unternehmensbesteuerung einer alten Forderung der Finanzbranche selbst. Diese wollte ihren Beteiligungsballast aus der Frühphase der westdeutschen Deutschland AG gänzlich abwerfen. Steuerfrei. Und das Kapital profitabler anlegen. Und internationaler. Mittlerweile betragen laut Bundesbank die deutschen Direktinvestitionen im Ausland 1,4 Billionen Euro (2015).
Dennoch platzten die rot-grünen Träume, die Deutschland AG blieb in gewandelter, internationalisierter Form erhalten. Nun begleiten Deutsche Bank und Co. ihr industrielles Klientel in die neuen Hotspots der Weltwirtschaft, etwa nach China.
Ob die Macht der Banken heute ungebrochen ist, weiterhin Finanzgruppen dominieren? Tragfähige Antworten aus neuen umfassenden Studien fehlen. Immerhin sind es Banken, nicht Industriekonzerne oder gar Dienstleister, die als »systemrelevant« gelten. Drei Dutzend Großbanken und große Versicherer umfasst die Liste global systemrelevanter Finanzinstitute des Finanzstabilitätsrats FSB in Basel. Darunter befinden sich Deutsche Bank und Allianz. Ihre Pleite könnte die ganze Weltwirtschaft gefährden – wie 2008 der Zusammenbruch von Lehman Brothers.
Weiterhin dürfte der Stimmrechtsanteil von »deutschen« Banken – auch ihre Anteilseigner sind internationalisiert – und ihrer Investmentgesellschaften häufig für relative Mehrheiten ausreichen. Zudem existieren oftmals Bündnisse mit »befreundeten« Großaktionären und Finanzakteuren. Entsprechend bankfreundlich wird der Aufsichtsrat besetzt, der wiederum bankproportional den Vorstand beruft.
Zugleich werden Vorstandsmitglieder wichtiger Konzerne in die Großbanken institutionell eingebunden. Weniger als früher, aber immer noch weit über 600 Beiratsmitglieder aus Wirtschaft, Gesellschaft und Politik verzeichnet allein die Deutsche Bank in ihrer Mandatsübersicht vom April dieses Jahres. Der Kreislauf der Macht wirkt fort in den Finanzgeschäften der Unternehmen, etwa bei der Ausgabe neuer Aktien oder Anleihen. Die führende(n) Depotbank(en) verkauft die jungen Wertpapiere an ihren alten Kundenstamm – wodurch Provisionen und der Verbleib neuer Vollmachtstimmen gesichert bleiben.
Finanzkrise, Skandale und Milliardenstrafen sollten nicht über die Macht der Großbanken hinwegtäuschen. Ohne hartes Kerngeschäft hätte sie diese Belastungen nicht überstanden. Die Deutsche Bank verfügt immer noch über eine Bilanzsumme von 1,6 Billionen Euro. So ist sie bei der Finanzierung globaler Rohstoffgeschäfte ebenso wie im Devisenhandel weltweit eine der ersten Adressen.
Dennoch, es bleibt nicht alles beim Alten. Im Aufsichtsrat der Deutschen Bank sitzen – auch wegen veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen – nicht mehr die Spitzen von Daimler und Siemens. Stattdessen gehören dem Koordinierungsorgan neben Allianz und SAP auch JP Morgan Chase und Google an.
Die Modernisierung hat den alten, elitären Industriekapitalismus in einen neuen, scheinbar offenen Finanzkapitalismus verwandelt. Dieser Wandel baut auf zwei Akteuren, den Finanzmärkten und der Investmentbranche. Die Finanzmärkte haben schon länger Gewicht für das Wohl und Wehe von Währungen, Staaten und Realwirtschaft. Doch dieses Gewicht wuchs rapide, seit die Börsen Mitte der neunziger Jahre in New York, London und Frankfurt – ausgelöst vom amerikanischen Wirtschafts- und Aktienboom – den Takt der internationalen Ökonomie diktieren (wollen).
Schon vor der Finanzkrise stieg die Geldmenge schneller als das WeltBruttoinlandsprodukt. Geldkapital war nie knapp – aber immer weitgehend in der Verfügungsgewalt der Banken. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, der akkumulierte Reichtum von Konzernen, die keine realen Investitionen mehr finden, und die Ausdehnung des Kapitalismus in die früheren sozialisti- schen Staaten hat die Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft gewaltiger gemacht.
Wer aber sind diese »Finanzmärkte« und wer beeinflusst sie maßgeblich? Es sind hierzulande weiterhin an erster Stelle die Großbanken Deutsche, Commerzbank (einschließlich Dresdner Bank) sowie die seit 2005 »italienische« Hypo-Vereinsbank. Deren gemeinsame Bilanzsumme entspricht dem deutschen Bruttoinlandsprodukt. International sind es drei Dutzend »systemrelevante« Global Player, die Kurse und Zinsen dominieren, hochriskante Hedge-Fonds und die auf Unternehmensbeteiligungen spezialisierten Private-Equity-Fonds mit Geldkapital versorgen und Steueroasen finanzieren.
Der zweite Akteur, der die Bankenmacht modernisiert, ist die Investmentbranche. In Fonds wird das Geld der »kleinen Leute« gesammelt. Mit der Teilprivatisierung der Telekom im November 1996 brach selbst in der sicherheitsorientierten Bundesrepublik ein Börsenfieber aus. Wie es in den USA schon seit den fünfziger Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung grassiert. Die Politik erschloss durch Liberalisierungen wie die Teilprivatisierung der Rente der Investmentbranche neue Märkte. Wichtige Investmentgesellschaften gehören den großen Kreditinstituten und Versicherern.
Die moderne Macht der Banken hat sich weltweit ausdifferenziert, so meine These, ohne verschwunden zu sein. Aus geradliniger Abhängigkeit und strikter Dominanz im nationalen Rahmen wurde ein hegemoniales Beziehungsgeflecht, das speichenförmig vor allem nach Westeuropa, Nordamerika und in einige wenige Staaten Asiens ausstrahlt, in die »Hubs«, die Knotenpunkte der Globalisierung.
Forscher der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich haben 2014 analysiert, welche Konzerne die Weltwirtschaft dominieren. In ihrer Datenbank sind rund 37 Millionen Unternehmen verzeichnet. Unter diesen befinden sich rund 43 000 multinationale Konzerne, die miteinander vernetzt sind. Bei der weiteren Analyse der Forscher konnte ein Kern von 1318 Firmen ausfindig gemacht werden, welche die Realwirtschaft maßgeblich beeinflussten. Davon lediglich 147 Konzerne dominierten den Großteil der gesamten Weltwirtschaft. Ein zweiter Blick auf diese 147 Konzerne zeigt, dass mehr als drei Viertel von ihnen im Finanzsektor tätig sind. Finanzkrise, Skandale und Milliardenstrafen sollten nicht über die Macht der Großbanken hinwegtäuschen. Die Deutsche Bank ist bei der Finanzierung globaler Rohstoffgeschäfte ebenso wie im Devisenhandel weltweit eine der ersten Adressen.