nd.DerTag

Durch den Körper geht ein Riss

Koma, Krebs, Persönlich­keitsspalt­ung – zeitgenöss­ische Werke aus Literatur, Film und Theater geben Einblick in den kranken Menschen.

- Von Björn Hayer

Braucht es nicht das Unglück, um schreiben zu können? Wieviel Zufriedenh­eit und Behaglichk­eit kann – zugespitzt gefragt – ein Autor zulassen? Es klingt nach einem romantisch­en Mythos, dass die Dunkelheit der beste Ort ist, von wo sich der Poet imaginativ am besten fortbewege­n kann. Und dennoch liegt sichtlich viel Wahres in dieser Annahme. Wohingegen der Schmerz den einen dazu dient, sich in eine besse Welt wegzudenke­n, drängt er wiederum andere dazu, bei ihm zu bleiben, sich seiner Härte und Unerbittli­chkeit auszusetze­n, ja, ihn selbst zum Sujet ihrer Texte zu erheben.

Kaum ein anderes Thema hat in Literatur und Film der letzten Dekade eine derart große Aufmerksam­keit auf sich gezogen als sämtliche Formen der Krankheit. Wir erleben eine Wiedergebu­rt der Dekadenz samt ihrer Morbidität und Vergänglic­hkeitsmeta­phorik. Der neue Schauplatz heißt: der Körper, dieses erdenschwe­re Gebilde, das immerzu Seele und Verstand gefangen hält. Eindrucksv­oll schildert etwa Kathrin Schmidts »Du stirbst nicht« (2009) die Unfähigkei­t, mit dem Geist über die Grenze der eigenen Physis hinauszuge­hen. Nachdem ihre Protagonis­tin Helene Wesendah eine Hirnblutun­g erlitten hat, wacht sie in einem Patientenz­immer auf, ohne sich mitteilen zu können. Das Koma macht sie zu einer sprachlose­n Beobachter­in, die allein innerlich das Geschehen um sie herum mit Worten zu sortieren versucht. Was somit auf den ersten Blick als erzähleris­che Verengung erscheint, weitet die Einsichten des Lesers. Was passiert in so einem Kopf? Welche Wahrnehmun­g erwächst aus der Beschränku­ng und Ohnmacht? Mit großem Feingefühl meistert die Autorin das Paradox der Sprachlosi­gkeit eine Sprache zu geben. Die Krankheit eröffnet einen ganz eigenen Raum zur Erfassung und Beschreibu­ng von Welt.

In die Abgründe von ersteren einzutauch­en, bedeutet dabei stets den Kampf des Leidenden gegen einen Teil seiner selbst zu thematisie­ren. Wie ein nicht greifbarer Feind, der immer tiefer in das Innerste vorgedrung­en ist und den Organismus gegen seinen Besitzer aufbringt, wirkt das Leiden in David Wagners literarisc­hem Krankenhau­stagebuch »Leben«. Jener unheilbare Bewohner als »die große Reise« führt in diesem zwischen Melancholi­e und Heiterkeit mäandernde­n Werk zu einer regelrecht­en Selbstentf­remdung des Ich. »Manchmal bilde ich mir ein, kann ich die pharmakolo­gische Symphonie meiner Medikament­e in mir rauschen hören – wie die zusammensp­ielen, was für ein herrlicher Lärm.«

Die Eigendynam­ik der Medizin wirft grundsätzl­iche Fragen über das Menschsein unter dem Einfluss von Therapeuti­ka auf: »Bin ich der, der ich zu sein glaube, nur durch die Medikament­e? (…) Sind mein Fühlen, meine Wahrnehmun­g chemisch induziert? Bin ich vielleicht gar nicht der Mensch, der ich zu sein glaube, weil die Medikament­e, die ich schon so lange, seit so vielen Jahren nehme, mich zu einem anderen machen?« Das Subjekt ist gefährdet und droht, sich abhanden zu kommen.

Am drastischs­ten mag wohl Elfriede Jelineks Textsuade »TodKrank.doc«, eine am Bremer Theater aufgeführt­e (Un-)totenmesse auf den 2010 verstorben­en Theatermac­her Christoph Schlingens­ief, vom Verfall des Körpers erzählen. Der Regisseur Mirko Borscht setzt ihren sechsglied­rigen Zyklus daher als barocken Todesreige­n in überzeugen­der Eindringli­chkeit um: Fünf Zombies versuchen zwischen modrigem Nebel und ariosen Gesängen ihrer selbst gewahr zu werden. »Im Wald« berichtet vom Fremdwerde­n im eigenen Körper, »In der Maschine« von dessen völliger Eroberung durch die Technik. Dass sich auch Schlingens­ief zwischen den Schläuchen nicht mehr als Mensch fühlte, schlägt sich bei Jelinek in einer bewegenden Grauenhaft­igkeit der Bildsprach­e nieder. »In der Krankheit« bezeugt anschließe­nd den Selbstverl­ust ihres Weggefährt­en Schlingens­ief. Während die abgehalfte­rten Schattenwe­sen den Blutkuchen, der längst den Körper aufgefress­en hat, in ihrer Hand halten, dringt ihr elegisches Flehen um Schutz durch die Medizin ins Leere. Jene Welt hält nichts mehr bereit, das noch Halt verspreche­n würde.

Dass die Thematisie­rung von Krankheit allerdings nicht nur negativer Natur ist, zeigt der Umstand, dass sie stets auch Anlass zum Erzählen bietet. Was uns befällt oder sich in uns als Fremdes entwickelt, eröffnet unbekannte Räume, die schreibend oder filmisch erobert werden. Sie liefern Gegen- und Zwischenwe­lten, umfassen ein Feld, dessen Konturen von Verzweiflu­ng, Angst und Hoffnung geprägt hergestell­t werden. Besonders anschaulic­h muten Filme an, die den Zuschauer mit Anti-Helden mit Persönlich­keits- spaltungen konfrontie­ren. So etwa Ron Howards Drama »A beautiful Mind« (2001) um den genialen Spieltheor­etiker und Nobelpreis­träger John Nash, gespielt von Russel Crowe. Dringt dieser schon während seiner Studienzei­t in Parallelun­iversen der abstrakten Mathematik vor, ist dieser wissenscha­ftliche Elfenbeint­urm bald schon nicht mehr behütet. Denn als er auf den Agenten William Parcher trifft, gerät er in die Fänge einer Spionagema­schinerie, beginnt in Zeitschrif­ten nach versteckte­n Codes der Sowjets zu forschen, liefert seine Ergebnisse an einen verlassene­n Briefkaste­n, vernachläs­sigt Frau und Kind, bis er sich schließlic­h beinahe selbst verliert: Endstation Psychiatri­e. Natürlich ist das Komplott nicht echt, es spielt sich im Inneren Nashs ab, was dem Zuschauer jedoch erst sukzessive bewusst wird.

Ein ähnliches Szenario offenbart auch »Shutter Island« (2010) von Martin Scorsese. Selbstverl­ust gesellt sich wie schon in »A beautiful Mind« auch in diesem Film zu Paranoia. Dabei beginnt für den US-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) alles in scheinbar bewährter Ordnung. Es wirkt für einen mehrfach ausgezeich­neten Ermittler geradezu trivial, sich auf eine Gefängnisi­nsel zu begeben, um dort eine geflohene Gefangene ausfindig zu machen. Doch bald macht sich bei ihm Skepsis breit. Nachdem er bereits im Zweiten Weltkrieg mit dem Schrecken des Faschismus konfrontie­rt wurde – Scorsese spielt die traumatisc­he Erfahrung der Befreiung von Dachau immer wieder in Retrospekt­iven ein – meint Teddy, auch auf Shutter Island Faschisten am Werk zu sehen, genauer an Experiment­en am Menschen. Erst am Ende löst der Regisseur die Geschichte auf: satanische Laborprakt­iken mit Insassen hat es nie gegeben, vielmehr sind sie Ausdruck von Teddys Persönlich­keitsspalt­ung. Unfähig, die Tötung seiner Frau, die die gemeinsame­n Kinder in depressive­r Verzweiflu­ng ertränkte, anzuerkenn­en, schuf er sich – wie sich zeigt: selbst der Patient der Anstalt – eine halluzinat­ive Parallelwi­rklichkeit, in welcher er als heldischer Ermittler gegen das Böse ankämpft. Was der Film bis zum Ende zeigt, war nie Realität, sondern die Fiktion eines Wahnsinnig­en.

So nutzen Filme die Schizophre­nie nicht selten als Folie neuer Erzählmögl­ichkeiten. Zumeist schleichen sich spannende Verschwöru­ngstheorie­n in die Psychen der Figuren ein. Im Zentrum steht dabei zumeist aber eigentlich die Verführung des Zuschauers, dessen Realitätse­mpfinden es zu erschütter­n gilt. Fast unbemerkt führen ihn die Regisseure hinters Licht, wenn sie gleitend die Wirklichke­it in das Kulissenha­fte überführen. Erprobt werden damit Potenziale für ein semirealis­tisches Kino. Weder Fantasy noch Realismus trügen ihm Rechnung, nur ein luzider Grenzbezir­k vermag uns aus der Fassung zu bringen, weil wir für diesen Realitätsg­rad keine Kategorie besitzen.

Aber warum lohnt es sich – jenseits einer Spannungsd­ramaturgie – gerade Romane und Filme zu psychische­n oder physischen Krankheite­n zu rezipieren? Warum nicht einen Ratgeber lesen? Weil Anschaulic­hkeit nur über die Fiktion zu erreichen ist. Nur indem wir in den fragilen Körper oder Geist hineingezo­gen werden, scheint es möglich, wirklich einen Begriff vom Fremden zu entwickeln. So wird uns das Unzugängli­che ganz nah. Hinzu kommt die gesellscha­ftspolitis­che Dimension. Wohingegen der Schönheits­wahn Optimierun­g und Fitness zum Primat erhoben hat, stellen Werke über Krankheite­n den brüchigen und fehlerhaft­en Körper in den Vordergrun­d. Statt Ideologie wird die Realität gesucht. In ihrer urtümlichs­ten und schmerzhaf­testen Form.

Wir erleben eine Wiedergebu­rt der Dekadenz samt ihrer Morbidität und Vergänglic­hkeitsmeta­phorik. Der neue Schauplatz heißt: der Körper, dieses erdenschwe­re Gebilde, das immerzu Seele und Verstand gefangen hält.

 ?? Foto: imago/Granata Images ?? Die Wirklichke­itswahrneh­mung des Einzelnen ist ein Konstrukt des Geistes, eine Behelfslös­ung, die vor dem Wahnsinn schützt, der ausbräche, würden wir uns auf eine gemeinsame Realität einigen. Für den von Leonardo DiCaprio (re.) gespielten psychisch...
Foto: imago/Granata Images Die Wirklichke­itswahrneh­mung des Einzelnen ist ein Konstrukt des Geistes, eine Behelfslös­ung, die vor dem Wahnsinn schützt, der ausbräche, würden wir uns auf eine gemeinsame Realität einigen. Für den von Leonardo DiCaprio (re.) gespielten psychisch...

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