nd.DerTag

Zum Wohle aller

Demokratie sollte der Freiheit aller dienen und allen eine Beteiligun­g an Entscheidu­ngen möglich machen. Ein Plädoyer für eine Politik der Offenen Gesellscha­ft.

- Von Peter Monnerjahn

Der »Brexit« hält Europa in Atem. Seine Gegner befürchten das Auseinande­rbrechen Großbritan­niens und eine Gefährdung der EU; seine Befürworte­r bestehen darauf, dass die Mehrheit nun einmal entschiede­n habe und eine solche Entscheidu­ng, der nun nachgekomm­en werden müsse, Ausdruck der Demokratie sei. Während man den Brexit-Gegnern aber bestenfall­s vorwerfen kann zu verhindern, dass Großbritan­nien etwas mehr Souveränit­ät erlangt, ist das Denken der Befürworte­r ungleich gefährlich­er: Es untergräbt die Demokratie an sich.

Bereits Platon hat auf das Paradox hingewiese­n, dass eine demokratis­che Mehrheit dafür stimmen könnte, einen Tyrannen einzusetze­n und so die Demokratie abzuschaff­en. Die Interpreta­tion von Demokratie im Sinne von »Was die Mehrheit entscheide­t, ist bindend« führt sich selbst ad absurdum. Wer rational denken und handeln möchte, muss sie aufgeben. Und das ist kein bloß abstrakt-theoretisc­her Einwand, der nichts mit der Praxis zu tun hätte: Der Schutz von Minderheit­en vor diskrimini­erenden staatliche­n Handlungen und Gesetzen ist der offensicht­lichste Ausdruck davon, dass auch in der Praxis Demokratie nicht mit Majoritari­smus gleichzuse­tzen ist.

Das Paradox der Demokratie ist nur ein Spezialfal­l des Paradoxons der Freiheit: Absolute, schrankenl­ose Freiheit kann es nicht geben, da sie dazu führen würde, dass der/die Inhaber der Macht die Freiheit der weniger Mächtigen immer weiter einschränk­en könnte/n. (Gleiches gilt im Übrigen für Toleranz: Sind wir auch gegenüber demjenigen tolerant, der die Toleranz selbst abschaffen will, wäre das das Ende der Toleranz.) Die einfache Lösung dieses Problems geht auf Kant zurück: Freiheit muss dadurch beschränkt sein, dass sie für alle gleicherma­ßen zu gelten hat.

Was kann unter diesen Voraussetz­ungen »Demokratie« überhaupt heißen? Eine rein subjektive Definition (Wille der Mehrheit) ist ausgeschlo­ssen; an ihre Stelle tritt eine objektive (Sicherstel­len gleicher Freiheit für alle). Freiheitsr­echte haben nun allerdings eine Besonderhe­it: Sie zwingen niemanden zu ihrer Ausübung, sondern sichern nur jedem zu, sie ausüben zu können. Der entscheide­nde Schluss daraus lautet: Demokratis­che Legitimati­on besteht nicht darin, dass eine Mehrheit etwas beschließt oder dass alle Bürger sich tatsächlic­h an einer Entscheidu­ng beteiligen; sie besteht darin, dass sie dem Sicherstel­len der Freiheit aller dient und dass eine Beteiligun­g an der Entscheidu­ng allen möglich ist. Und Wahlen sind auch nur eine mögliche Form der Entscheidu­ngsfindung. Andere, nichtmajor­itäre Prozesse, die explizit an objektive Kriterien gebunden sind, sind denkbar – es fehlt nur an einer breiteren Diskussion darüber.

Das hier vertretene Verständni­s von Demokratie steht in der Tradition der Aufklärung und des klassische­n Liberalism­us. Es ist beinahe das Gegenteil dessen, das man »Neoliberal­ismus« oder »Libertaris­mus« nennt und dessen Ziel der Abbau jeglicher Schranken der Freiheit, jeglicher Regulierun­g ist. Und es ist eng verbunden mit dem Begriff der »Offenen Gesellscha­ft«, geprägt von Karl Popper, dem österreich­isch-britischen Philosophe­n. Diese liberale, aufkläreri­sche, offene Gesellscha­ft ist eine, die »die kritischen Fähigkeite­n des Menschen freisetzt« und die ihren Mitglieder­n Entscheidu­ngen nicht abnimmt, sondern selbststän­diges Denken geradezu einfordert.

Selbststän­diges Denken ist – in Kants berühmter Beantwortu­ng der Frage »Was ist Aufklärung?« – nun gerade solches, das ohne ein Berufen auf diese oder jene Autorität auskommt, sei es ein vermeintli­ch heiliges Buch, ein vermeintli­cher Experte oder die angebliche Objektivit­ät unserer Sinne. Nur: Wie geht das, den Einfluss von Autoritäte­n systematis­ch auszuschli­eßen? Die Lösung (ebenfalls von Popper) lautet, kurz Gute Luft dank eines Lochs im Dach: Architektu­r für die offene Gesellscha­ft

gesagt: Da es keine unfehlbare­n Quellen des Wissens gibt und Induktion (das Schließen auf allgemeine Gesetzmäßi­gkeiten aufgrund von Fakten) logisch ungültig ist, können wir uns nur deduktiver Logik bedienen, die immerhin Widersprüc­he aufdecken kann: z. B. dass eine Idee mit bestimmten Fakten unvereinba­r ist. So können wir immerhin zu immer besserem Wissen gelangen.

Wissensfor­tschritt ist da möglich, wo wir vor einem (intellektu­ellen) Problem stehen: vor einem Widerspruc­h zwischen bestimmten Phänomenen der Welt (Fakten) und unseren bisher besten Erklärunge­n (Theorien). Eine solche Theorie könnte sein, dass Bestrafung motivieren­d und leistungss­teigernd wirkt – z. B. in der Schule in Form von leichten Schlägen auf den Hinterkopf oder in Form von Sanktionen gegen Arbeitssuc­hende, die einen vorgeschla­genen Job ablehnen. Nun wäre es möglich, durch einen geeigneten Test herauszufi­nden, dass eine Gruppe, in der theoriekon­form bestraft wurde, tatsächlic­h weder motivierte­r noch leistungss­tärker ist als eine Kontrollgr­uppe. Dann kann man sich durch Logik zu einer Entscheidu­ng zwingen lassen: bestimmte Fakten anzuzwei- feln oder zu akzeptiere­n, dass bisherige Theorien fehlerhaft sind, wir also etwas dazulernen müssen. (Ohne eine kritische Haltung, die verhindert, dass man z. B. selektiv solche Fakten anzweifelt, die den eigenen Vorurteile­n widersprec­hen, ist aber auch Logik machtlos.)

Politik in einer der Aufklärung verpflicht­eten offenen Gesellscha­ft, deren Ziel es ist, die (liberal verstanden­e) Freiheit zu schützen und nach Möglichkei­t zu mehren, hat bestimmten methodisch­en Kriterien zu genügen. Ausgehend von objektiven Problemen, offen für jegliche Kritik, sucht sie nicht nach einer utopischen perfekten Lösung, sondern nach immer besseren Lösungen. Wie kann so etwas konkret aussehen? Betrachten wir drei realistisc­he Fälle:

Fall 1: Die Kinderster­blichkeit durch Malaria in Land X ist sehr hoch. Vorgeschla­gene Lösungen sind u. a. kostenlose Moskitonet­ze auszugeben, sie zu einem subvention­ierten Preis abzugeben oder bloß sicherzust­ellen, dass zum Marktpreis genügend Angebot besteht. In einer randomisie­rten Studie lassen sich die zugrundeli­egenden Erklärungs­modelle kritisch testen: Es sind Studienaus­gänge möglich, die klar zeigen, dass nur eine der getesteten Theorien mit den relevanten Fakten vereinbar ist. Diese dann anzuwenden, garantiert allerdings weder, dass das Problem tatsächlic­h gelöst wird, noch dass man nicht mit der Zeit eine noch bessere Lösung findet. Eine rationale Lösung ist nur die zu einem Zeitpunkt getestete und sich als am besten erwiesen habende.

Fall 2: Eine Wirtschaft­skrise bedroht das Bankensyst­em und damit die wirtschaft­liche Grundlage einer freien Gesellscha­ft. Sollte man dem Vorschlag folgen, die Banken mit staatliche­n Geldern zu retten, oder dem Alternativ­vorschlag, manche Banken pleitegehe­n zu lassen? Hier kann z. B. eine Computersi­mulation helfen, die vielen beteiligte­n Variablen in einem Modell zu vereinigen und verschiede­ne Szenarien durchzuspi­elen. So könnte sich zeigen, dass sich eine Variante anders verhält, als deren Anhänger behaupten – und man müsste sich nicht darauf verlassen, dass Experte X schon recht haben wird, dass Ideologie Y immer die besseren Lösungen bietet oder dass wir Z tun sollten, weil wir das schon immer so gemacht haben.

Fall 3: Eine immer stärker automatisi­erte und digitalisi­erte Wirtschaft und der demografis­che Wandel legen den Schluss nahe, dass ein umlagefina­nziertes Sozialsyst­em, das auf Erwerbsarb­eit als Paradigma beruht, irgendwann nicht mehr tragbar ist. Eine Theorie, die auf die Mündigkeit von Bürgern abstellt, legt als Handlungso­ption ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen nahe; eine zweite, die davon ausgeht, dass die menschlich­e Natur die Bürger in Massen dazu verleiten würde, sich auf die faule Haut zu legen, legt als Handlungso­ption nahe, Sozialleis­tungen zu kürzen und Sanktionen einzuführe­n, um Bürger zu »motivieren«, eine Erwerbsarb­eit aufzunehme­n. Hier ließe sich z. B. in Pilotproje­kten testen, ob die befürchtet­en negativen bzw. die vorhergesa­gten positiven Effekte tatsächlic­h eintreten.

Eine solche Politik tut zwei Dinge: Sie orientiert sich konsequent an objektiven Problemen und lässt sich an objektiven Kriterien messen; und sie ermutigt und unterstütz­t jegliche objektive Kritik, so dass bessere von schlechter­en Lösungen unterschei­dbar werden. Und eine solche Politik hat die große Chance, auch diejenigen wieder für eine Beteiligun­g an der Lösung gesellscha­ftlicher Probleme zu interessie­ren, die sich von der jetzigen Politik abgestoßen fühlen, die hauptsächl­ich an der Befriedigu­ng des eigenen Egos, bestimmten Partikular­interessen oder an Parteigeho­rsam orientiert zu sein scheint. Die Politik einer offenen Gesellscha­ft ist dagegen nicht einfacher und nicht bequemer. Aber sie ermöglicht die kritische Beteiligun­g aller, zum Wohle aller: echte Demokratie.

 ?? Foto: plainpictu­re/Westend61/CBpictures ??
Foto: plainpictu­re/Westend61/CBpictures

Newspapers in German

Newspapers from Germany