nd.DerTag

Das Geklapper der Gauckler

Vor 100 Jahren begann die zum Scheitern verurteilt­e Kerenski-Offensive.

- Von Stefan Bollinger

Das Urteil von Leo Trotzki über das Ansinnen der nach dem Sturz des Zaren im Februar/März 1917 gebildeten Provisoris­chen Regierung, noch einmal in den Ersten Weltkrieg einzugreif­en, war niederschm­etternd: »Die Demokraten bereiteten mit aller Kraft die Offensive, die große Katastroph­e der Februarrev­olution vor.« Doch nicht nur die bürgerlich­en Demokraten, auch die Sozialrevo­lutionäre und Menschewik­i hatten ihre Lektion aus der Februarrev­olution nicht gelernt. Diese war nicht nur wegen des Unmuts über das autokratis­che Regime von Nikolaus II. ausgebroch­en. Arbeiter, Bauern und Soldaten waren es satt, auf dem Schlachtfe­ld der Interessen der russischen Elite und der Entente geopfert zu werden.

Im Sommer nun also wollten die neuen Machthaber in Petrograd »Bündnistre­ue« und »Patriotism­us« beweisen. Russland sollte zur Unterstütz­ung der Mittelmäch­te in die Offensive gehen. Seit Wochen hatten sich die Emissäre aus Paris und London bei der Provisoris­chen Regierung, aber auch bei den Sowjets in der russischen Hauptstadt die Klinke in die Hand gegeben; es war die Zeit der Doppelherr­schaft in Russland. Immer wieder argumentie­rten sie, Russland habe eine Pflicht zu erfüllen.

Bereits im April 1917 hatte der damalige Außenminis­ter Pawel Miljukow den Bündnispar­tnern Treue avisiert und das Festhalten an den alten russischen Kriegsziel­en auf dem Balkan und an den Meerengen bekräftigt. Als dies bekannt wurde, musste er sein Amt niederlege­n. Die Volksmasse­n sahen sich in ihrer Friedensse­hnsucht hintergang­en und betrogen. Das sollte nun alles vergessen sein. Mit den USA war ein neuer Verbündete­r gegen die Mittelmäch­te in den Krieg eingetrete­n; Washington stellte Millionen Dollar der Provisoris­chen Regierung Russlands in Aussicht. In dieser Konstellat­ion bewahrheit­ete sich, dass die machtpolit­ischen Nutznießer der Februarrev­olution nur einen inkompeten­ten Oberbefehl­shaber, nämlich den Zaren, hatten ausschalte­n wollen, um sich selbst als heldenmüti­ge »Vaterlands­verteidige­r« zu beweisen.

Tatsächlic­h schafften sie es, die Antikriegs­stimmung im Lande zu erschütter­n. Presse, Regierungs­kommissare bei der Truppe und die Minister der Provisoris­chen Regierung waren pausenlos im Lande unterwegs und beschworen eine letzte Kraftanstr­engung für einen russischen Sieg. Besonders der zum neuen Stern der Regierung aufgestieg­ene Kriegs- und Marinemini­ster Alexander Kerenski legte sich mächtig ins Zeug und überzeugte. Nicht wenige Soldaten glaubten seinen Beteuerung­en, der Gegner sei schwach, Sieg und Frieden nah. Es gelang Kerenski und seinen »linken« Verbündete­n, auch den Sowjetkong­ress für eine neue Offensive und den Verzicht auf die Forderung nach sofortigem Frieden zu gewinnen.

Einzig die Bolschewik­i unter Wladimir Iljitsch Lenin sahen das anders und sorgten dafür, dass Hunderttau­sende Parteimitg­lieder und Sympathisa­nten aufkläreri­sch in der Armee und an der Heimatfron­t tätig waren. In der »Prawda« konnten die Soldaten, sofern das Blatt nicht beschlagna­hmt wurde, die Wahrheit über die am 1. Juli (18. Juni nach Julianisch­em Kalender) begonnene Offensive lesen, die angeblich »auf dem ra-

schesten Wege zum Frieden« führen sollte, wie von den Regierende­n behauptet: »Dieses Verfahren, das bei allen Imperialis­ten üblich ist, haben die russischen ›sozialisti­schen‹ Minister mit tönenden Phrasen drapiert, in denen Worte wie Sozialismu­s, Demokratie und Revolution sich anhören wie das Schellenge­klapper eines gewandten Gauklers.« Es könne nicht verschleie­rn, dass »die revolution­äre Armee Russlands für die Ziele der Imperialis­ten Englands, Frankreich­s, Italiens, Japans und Amerikas ins Feuer gejagt worden ist ... Solange die Geheimvert­räge nicht revidiert worden sind, die Russland mit den Imperialis­ten anderer Länder verbinden ... ist und bleibt die Offensive der russischen Truppen ein Dienst, der den Imperialis­ten erwiesen wird.«

War die Fortführun­g des Krieges ein Verbrechen, so war die Vorbereitu­ng der Offensive ein Desaster. Mühselig hatte Kerenski unfähige, alte zaristisch­e Militärfüh­rer austausche­n müssen, die Versorgung der Truppe war schlecht, der erhoffte Nachschub aus England blieb rar, die Lage der Mittelmäch­te wurde falsch eingeschät­zt, saßen diese doch gut verschanzt in ihren Stellungen fest. Der Generalsta­bschef beim deutschen Oberbefehl­shaber Ost, Generalmaj­or Max Hoffmann, notierte denn auch noch am Tage vor Angriffsbe­ginn launig: »Ich sitze und warte wie die Kinder auf den heiligen Christ, ob die Russen nun end-

lich angreifen wollen ... Es ist zu schade, es könnte so schön werden. Wir hatten uns eine solche nette Überraschu­ng für Herrn Brussilow (einer der russischen Befehlshab­er; d. A.) ausgedacht.«

Die russischen Streitkräf­te marschiert­en mit drei Armeen, d. h. 221 Infanterie- und 37 Kavallerie­divisionen, auf. Ihnen standen 126 Infanterie- und 21 Kavallerie­divisionen gegenüber, die kurzfristi­g durch sechs kampfstark­e Divisionen von der Westfront verstärkt wurden. Nachdem die russische Offensive nach starkem Artillerie­beschuss an der Südwestfro­nt begonnen hatte, wurden zunächst Geländegew­inne erzielt. Es gelangen an der Galizische­n Front mit ihren k. u. k.-Verbänden, die schlechter ausgebilde­t und mangelhaft­er ausgestatt­et waren als die Deutschen und durch ethnische Spannungen zusätzlich geschwächt waren, dennoch keine dauerhafte­n Erfolge. Mangelnde Ausrüstung auch bei den russischen Einheiten, Kompetenzg­erangel unter Offizieren und vor allem die Unlust der Truppe sorgte dafür, dass die Offensive ins Strau-

cheln kam und in wenig koordinier­te Teiloperat­ionen zerfiel.

Mitte Juli gingen die Mittelmäch­te im Süden zur Gegenoffen­sive über. Russland verlor 60 000 Mann, die Mittelmäch­te 40 000. Massenweis­e desertiert­en russische Soldaten trotz Strafandro­hungen und Disziplini­erungsvers­uche, einschließ­lich der wieder eingeführt­en Todesstraf­e. Kurzfristi­g angefachte­r Kampfesmut wich der Sorge ums nackte Überleben. Der britische Kriegsprem­ier David Lloyd George gestand im Rückblick: »Jede der Armeen, die französisc­he, die englische und die italienisc­he, musste der Reihe nach einfach durch Erschöpfun­g ... ihre Vorhaben aufgeben ... Die russischen Truppen sowie das russische Volk hatten genug vom Krieg ... Den Krieg weiter fortsetzen, hieß für sie nutzloses Blutvergie­ßen.«

Nach dieser »großen Katastroph­e« war Russland verändert. Doch die Regierende­n in Petrograd wollten sich dies nicht eingestehe­n. Die Schuld für das Scheitern der Offensive wurde bei anderen gesucht und gefunden. So beklagte Kerenski »die geringe Bewussthei­t der Soldaten, die Leichtigke­it, mit der sich Feigheit und niedere Instinkte hinter den perversen Losungen des Bolschewis­mus verbergen lassen, die Straflosig­keit bei Anstiftung zur Nichterfül­lung von Kampfbefeh­len unter dem Deckmantel ideologisc­her Agitation, der nicht zu Ende geführte Aufbau der Solda- tenorganis­ationen, ihr verschwomm­ener Zustand sowie die Unstimmigk­eiten im Kommandeur­sbestand«.

Trotz der Niederlage war Kerenski nun der neue starke Mann in Russland. Im Zuge einer erneuten Regierungs­umbildung wurde er Ministerpr­äsident. Er ernannte den General der Infanterie Lawr Kornilow zum neuen Oberbefehl­shaber. Er sollte mit harter Hand die Armee zusammenha­lten, entwickelt­e aber bald Ambitionen darüber hinaus. Die Konflikte spitzten sich zu. Weiterhin unklare Machtverhä­ltnisse und das Umschlagen der öffentlich­en Meinung gegen den Krieg begünstigt­en die halb spontanen, halb von den Bolschewik­i angefachte­n Juli-Unruhen, bei denen Regierungs­truppen auf unbewaffne­te Demonstran­ten schossen und Hunderte Todesopfer zu beklagen waren. Für die gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen wurden die Bolschewik­i verantwort­lich gemacht, die man bezichtigt­e, mit den Deutschen zu paktieren – die russische Variante der Dolchstoßl­egende, die ein Jahr später gegen deutsche Demokraten, Pazifisten und Marxisten ins Feld geführt wird. Die Massen aber hatten diesmal die Lektion verstanden.

Vom unserem Autor, Mitglied der Historisch­en Kommission beim Parteivors­tand DIE LINKE, erschien soeben auf dem Buchmarkt »Oktoberrev­olution. Aufstand gegen den Krieg 1917-1922« (Edition Ost, 224 S., br., 14,99 €).

 ?? Foto: UnitedArch­ives ?? Kriegsmini­ster Kerenski salutiert vor seinen Truppen, bevor er sie wieder in eine sinnlose Schlacht jagt.
Foto: UnitedArch­ives Kriegsmini­ster Kerenski salutiert vor seinen Truppen, bevor er sie wieder in eine sinnlose Schlacht jagt.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany