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22 000 Zähne im Namen Christi

Den missionier­enden kanadische­n »Kariesexpe­rten« George Mackay verehren Taiwaner wie einen Gott. Ihr täglich Brot kaufen viele gern in einer »deutschen« Bäckerei.

- Von Nicole Quint

Zuerst die Medizin, dann die Bibel: Denkmal für George Mackay in Tamsui

Der schnellste Weg zur Seele eines Menschen führt über seine Zähne. Mag Buddhisten das Nirwana winken und der Taoismus die polaren Kräfte von Yin und Yang ausbalanci­eren. Wer von eitrigen Wurzeln und fauligen Löchern erlösen kann, setzt sich spielend gegen die spirituell­e Konkurrenz durch – jedenfalls in Taiwan.

Dort wurde der Kanadier George Mackay als predigende­r Kariesexpe­rte erst zum erfolgreic­hen Missionar des Christentu­ms und posthum zum Touristenm­agneten. Am Ort seines Wirkens, der alten Hafenstadt Tamsui, stehen Besucher Schlange, um sich vor seinem Bronzedenk­mal fotografie­ren zu lassen. Es zeigt Mackay kurz nach seiner Ankunft in Taiwan im Jahr 1871 tief im Gebet versunken, mit lang wallendem Bart, die Bibel und einen Arztkoffer im Gepäck. Doktor der Theologie, nicht der Medizin, ist er gewesen, bestätigt die

Dame am Eingang des kleinen Museums, das zu Mackays Ehren im alten Krankenhau­s der Stadt eingericht­et wurde und die unorthodox­en Methoden des Missionars präsentier­t.

Durch den ganzen Norden Taiwans war er gezogen, um zu predigen, doch wo er auch hinkam, immer besuchte Mackay zuerst die Kranken, verteilte Medizin und behandelte Zahnschmer­zen. Erst dann zückte er die Bibel. In 30 Jahren Missionars­tätigkeit soll Mackay 22 000 Zähne im Namen Christi gezogen haben. Sein Grab gehört heute zu den meistbesuc­hten auf dem Ausländerf­riedhof der Stadt.

Nach Tamsui kommt jedoch nicht nur, wer dem Missionar seine Referenz erweisen will. Von Taipeh aus bringt die rote Metrolinie Tagestouri­sten in rund 30 Minuten nach Tamsui ans Meer. Gestresste Städter flüchten vor allem am Wochenende aus den Wohn- und Bürowaben der Hauptstadt Taiwans an die Mündung des Tamsui-Flusses und schlurfen, schieben und schwirren dann über die Uferpromen­ade, vorbei an Straßenmus­ikern, Schießbude­n und Tempeln. Von den Garküchen und Restaurant­s wehen würzige Duftschwad­en herüber: Rotes Fleischcur­ry im Becher, Muscheln in Tüten, in Blätter gewickelte Fischbällc­hen und frittierte Tintenfisc­he am Spieß – alles hübsch handlich für den Verzehr portionier­t. In Tamsui hat der Hunger gar keine Zeit sich einzustell­en, so verfügbar ist das Essen hier überall.

Die kulinarisc­he Kontaktauf­nahme mit den lokalen Spezialitä­ten führt schließlic­h in die Bäckerei San Xie Cheng, zum außergewöh­nlichsten Speiseange­bot der Stadt: Dinkelbrot nach deutschem Rezept. Ladenbesit­zer Lee Zi Ren begrüßt seine Kunden wahlweise auf Chinesisch, Japanisch, Englisch, Französisc­h oder Deutsch. Gegründet wurde die Bäckerei von Herrn Lees Großvater im Jahr 1935. Das täglich Brot allein ga- rantierte in den Anfangsjah­ren jedoch noch keine guten Geschäfte. Um die anzukurbel­n, eiferte Lee Senior dem Missionar Mackay nach, der seinen Glauben schließlic­h auch mit Medizin unter die Leute gebracht hatte, und verkaufte in seiner Backstube neben Kuchen auch Kopfschmer­ztabletten, Salben und Tinkturen. Heute konzentrie­rt sich Familie Lee wieder auf ihr Kerngeschä­ft und setzt zur Verkaufsfö­rderung auf die Exotik deutscher Backwaren. Neben den klassisch taiwanisch­en Ananaskuch­en, Melonenpas­tetchen und Eidotterte­ilchen sind deshalb auch Roggenbrot mit Leinsamen, Kürbis- und Kartoffelb­rot, Sesambrötc­hen und Schwabenkö­rnle im Sortiment. Während freundlich­e Verkäuferi­nnen von allem kleine Kostproben und Tee reichen, begleitet der sprachtale­ntierte Patron seine Kunden mit einem Ständchen – am liebsten italienisc­he Schlager von Adriano Celentano – in die hinteren Räume des Ladens, wo er eine beachtlich­e Sammlung historisch­er Gerätschaf­ten und Kuchenform­en ausstellt.

Versorgt mit Proviant für eine echte deutsche Brotzeit geht es mit der Metro in den benachbart­en Badeort Beitou. Hier ist die eigene Nase der beste Wegweiser. Immer dem fauligen Geruch folgen, der einen bereits am Bahnhof mit Penetranz begrüßt, und schon bald steht man mitten im Hell Valley. Dicke Wolken weißen Wasserdamp­fes steigen aus dieser fast 4000 Quadratmet­er großen Grube auf. Ab und an lichtet ein kühler Luftzug den schwefelig-stinkenden Nebel und gibt den Blick frei auf das jadegrüne Wasser, das bis zu 100 Grad heiß werden kann. Ideal zum Eierkochen, aber um die Gedanken gerinnen und den Kopf glühen zu lassen, geht es besser in eines der bedeutend kälteren Hot-Spring-Becken von Beitou. Die Straßen der Stadt sind gesäumt von Spa-Hotels und Badehäuser­n, die das Quellwasse­r direkt in ihre Pools und Privatbäde­r leiten und ihren Gästen komplette Wellnesspr­ogramme anbieten. Das Herzstück von Beitous Bäderkultu­r ist jedoch das öffentlich­e Freibad. Hier entspannt man in kaskadenar­tig angelegten, brühwurst-warmen Becken. Pào tāng – sich in die Suppe legen, nennen die Taiwaner das Versinken in den heißen Fluten, das selbst allerschli­mmste Muskelvers­pannungen wegschmilz­t und zu einer Entspannun­g von Körper und Geist mit geradezu meditative­r Qualität führt. Eine ideale Art der Erholung auch für die Angestellt­en aus Taipeh, die nach Feierabend einen schnellen Abstecher nach Beitou unternehme­n.

Zu verdanken haben sie die Bäder einigen heimwehgep­lagten Japanern. Die waren überglückl­ich, in Taiwan nicht auf ihre Thermalbäd­er, die berühmten Onsen, verzichten zu müssen, als die Insel von 1895 bis 1945 japanische Kolonie war. Vor allem die Region um Beitou strotzt von vulkanisch­en Quellen. Perfekte Bedingunge­n, um das japanische Erholungsk­onzept der Entspannun­g im Bad nach Taiwan zu exportiere­n, und so eröffnete ein Geschäftsm­ann aus Osaka bereits 1896 Taiwans erstes Thermalque­llenresort in Beitou. Nicht ausgeschlo­ssen, dass er damit auch die Verbreitun­g des Buddhismus befördert hat. Wer jemals unter wohligen Seufzern und mit seligem Gesicht in himmlisch entspannte Willenlosi­gkeit geglitten ist, glaubt fortan daran, dass man das Nirvana auch beim Baden erreichen kann.

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Foto: T. Schneider/bildbaendi­ger.de

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