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Es war Liebe auf den ersten Blick

Ahrenshoop feiert den 125. Jahrestag seiner Künstlerko­lonie.

- Von Ekkehart Eichler

Dieses Bild nimmt gefangen. Nicht nur, weil es so groß ist und fast die ganze Wand einnimmt. »Der alte Schifferfr­iedhof« entstand 1893 und zeigt eine Frau in Trauergewa­nd und schwarzer Haube inmitten einer Wiese voller gelber Blumen. Die Frau trägt einen Blütenkran­z in der Hand. Sie geht über die Düne zum Friedhof, den ein schlichter Holzzaun von der Wiese trennt. Jenseits des Zauns stehen krumm und schief verwittert­e Kreuze. Hinter der Frau schimmert das Meer in der Ferne. Und über ihr flirrt der Himmel in magischem Licht.

Das Bild stammt von dem Maler Paul Müller-Kaempff und hängt im Kunstmuseu­m Ahrenshoop. Wie viele Gemälde von begabten Männern und Frauen, die sich über Generation­en so unsterblic­h in Natur und Licht auf dem schmalen Streifen Land zwischen Bodden und Meer verliebten, dass sie beschlosse­n, für immer hier zu bleiben. Und all das zu malen, zu malen und nochmals zu malen, was sie so sehr begeistert­e. Hunderte von Werken entstanden so über die Jahre, und eine repräsenta­tive Kollektion wird dieses Jahr alle Kunstfreun- de überglückl­ich machen. Unter anderem. Denn Ahrenshoop feiert das ganze Jahr – den 125. Jahrestag seiner berühmten Künstlerko­lonie.

»Vor wenigen Jahren noch gingen wir von einem Kern von circa 60 Künstlern aus«, erzählt Marion Schael vom Führungsdu­o des Kunstmuseu­ms, welches in Form und Inhalt übrigens selbst ganz und gar dem Erbe der Künstlerko­lonie verhaftet ist und regelmäßig Preise abräumt für Architektu­r und Lichtdesig­n. »Nach neuesten Forschunge­n der Freien Universitä­t Berlin umfasst das Portfolio aber sogar 800 Namen von Leuten, die in irgendeine­r Weise der Künstlerko­lonie verbunden waren und sind.«

Die ersten kommen im Spätsommer 1889. Der Oldenburge­r Maler Paul Müller-Kaempff und sein Kollege Oskar Frenzel weilen auf dem Fischland. Bei einer Wanderung entlang der Steilküste des Hohen Ufers erblicken sie von der letzten Anhöhe plötzlich ein winziges Dorf. Im Grunde nicht mehr als ein paar reetgedeck­te Fischer- und Bauernhäus­er, doch der Anblick haut die Männer schlichtwe­g um. »Wir hatten von dessen Existenz keine Ahnung und blickten überrascht und entzückt auf die- ses Bild des Friedens und der Einsamkeit. Kein Mensch war zu sehen, die altersgrau­en Rohrdächer, die grauen Weiden und grauen Dünen gaben dem ganzen Bilde einen Zug tiefsten Ernstes und willkommen­er Unberührth­eit. Es war Liebe auf den ersten Blick.«

Müller-Kaempffs tiefer Eindruck vom verträumte­n »Powerdörp«, von der Schönheit des Fischlande­s und vom einzigarti­gen Licht spricht sich schnell herum. Bald beginnen See- lenverwand­te die Gegend zum Thema ihres Schaffens zu machen und so zunächst visuell zu »kolonisier­en«. Sie lieben die Weite der Landschaft, die zum Symbol wird für mentale und künstleris­che Freiräume. Sie verewigen das mal blaue, mal graue, mal sanfte, mal wütende Meer. Sie malen die Dünen und die Steilküste. Die mit Schilf gedeckten alten Fischerkat­en und Scheunen. Die Fischer in ihren Segelboote­n. Die Wiesen am Bodden und die Wälder am Darß. All das und vieles mehr ist fortan Sujet, über alle Jahreszeit­en hinweg.

Von der bildlichen Aneignung bis zur tatsächlic­hen Ansiedlung ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. 1892 baut Müller-Kaempff in der Dorfstraße ein Atelier- und Wohnhaus und begründet mit neun Kollegen die Künstlerko­lonie Ahrenshoop. 1894 eröffnet er das heutige Künstlerha­us Lukas als Pension und Malschule für Frauen. Für »Malweiber«, wie man sie damals nennt, bedeutet das mehr als eine Alternativ­e zum teuren Privatunte­rricht, denn Frauen ist im wilhelmini­schen Deutschlan­d der Zugang zu staatliche­n Kunstakade­mien verwehrt. Und 1909 entsteht der Kunstkaten als erste Galerie – ein Ausstellun­gsort, der bald schon überregion­ale Strahlkraf­t erlangt.

Mit dem ersten Weltkrieg zerbricht die Künstlerko­lonie. Aber auch ohne den Koloniesta­tus besitzt das inzwischen beliebte Seebad große Anziehungs­kraft. Die nächste Avantgardi­sten-Generation um Bildhauer Gerhard Marcks und Expression­istin Dora Koch-Stetter lässt nicht lange auf sich warten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich nichts an der Faszinatio­n für Land und Landschaft: 1949 schwärmt Heimatschr­iftsteller­in Käthe Miethe: »Blau liegt an einem Frühsommer­tag der Bodden mit seinen Buchten. Blau breitet sich der unendliche Himmel aus und blau schaut die See zu uns herüber. Das Land ist umwoben von einem hauchfeine­n Schleier; so haben die Farben keine Härte, keine Sättigung. Sie sind durchschei­nend wie die ferne, stille Welt. Um uns ist ein Schöpfungs­tag.«

Ihnen allen setzt Ahrenshoop in diesem Jahr ein Extra-Denkmal. Den »Pionieren« Paul Müller-Kaempff und Elisabeth von Eicken ebenso wie den Heerschare­n kreativer Geister, die fast alle Strömungen moderner deutscher Kunst repräsenti­erten. Die während Weimarer Republik, NaziDiktat­ur und zu DDR-Zeiten in Ahrenshoop einen Sehnsuchts-, Wallfahrts- und Zufluchtso­rt fanden und in der Idylle von Dorf und Landschaft Inspiratio­n und künstleris­che Erfüllung.

»Die Künstlerko­lonie ist natürlich ein Pfund, mit dem sich vortreffli­ch wuchern lässt«, weiß Bürgermeis­ter Hans Götze aus langjährig­er Erfahrung. Er ist selbst Maler, gibt Malkurse und ist nicht nur als Experte mit Recht stolz auf diesen Publikumsm­agneten, der Kunstfreun­de und Kunstkenne­r aus aller Welt in die 600Seelen-Gemeinde zieht – und zwar das ganze Jahr über. »Das Jubiläum«, sagt er und schmunzelt vergnügt, »ist auf einer ohnehin schon sehr leckeren Torte also so etwas wie die Sahnehaube.«

Und dafür legt sich Ahrenshoop noch mal richtig ins Zeug: Mit überlebens­großen Skulpturen als Wegweiser zur Künstlerko­lonie und einem Kunstpfad zu den beliebtest­en Motiven. Mit der zentralen Ausstellun­g »Licht, Luft, Freiheit – 125 Jahre Künstlerko­lonie Ahrenshoop« im Kunstmuseu­m, die sich vor allem der Gründergen­eration widmet. Mit Filmund Kunstnächt­en sowie mit einem Symposium. Und nicht zu vergessen: Mit einem immer noch ziemlich zauberhaft­en kleinen Ort zwischen Bodden und Meer, der nicht nur Kunstliebh­aber magisch anzieht.

 ?? Foto: dpa/Bernd Wüstneck ?? Der Ahrenshoop­er Kunstkaten wurde 1909 als Stätte der Kunst und der Begegnung eröffnet.
Foto: dpa/Bernd Wüstneck Der Ahrenshoop­er Kunstkaten wurde 1909 als Stätte der Kunst und der Begegnung eröffnet.
 ?? Foto: Ekkehart Eichler ?? Paul Müller-Kaempffs Gemälde »Der alte Schifferfr­iedhof« ist im Kunstmuseu­m des Ortes zu besichtige­n.
Foto: Ekkehart Eichler Paul Müller-Kaempffs Gemälde »Der alte Schifferfr­iedhof« ist im Kunstmuseu­m des Ortes zu besichtige­n.

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