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Ein verlässlic­her Ausputzer

»Aus dir wird eh nichts«, das hörte Andreas Musil öfter von seinen Erzieherin­nen. Dank gezielter Förderung lebt der mental beeinträch­tigte Mann heute selbststän­dig, hat einen Job und holte bereits 17 Medaillen bei den Special Olympics.

- Von René Jo. Laglstorfe­r

Wenn du am Anfang schon verurteilt wirst, ist es nicht einfach, an sich selbst zu glauben«, sagt Andreas Musil, wenn er an seine Kindheit zurückdenk­t. Zusammen mit seiner Zwillingss­chwester ist er in den 1970er und 80er Jahren in katholisch­en Kinderheim­en in Wien und Umgebung aufgewachs­en und streng erzogen worden. Und obwohl Andreas, der eine Lese- und Rechenschw­äche hat, damals in der Schule gemobbt und schief angeschaut wurde, hat er zeit seines Lebens nicht aufgegeben.

Mit 15 ist der gebürtige Wiener in einem schlechten Zustand, wie er sagt, in das evangelisc­he Diakoniewe­rk Gallneukir­chen nahe Linz gekommen, das Unterkünft­e für Menschen im Alter, auf der Flucht und mit Beeinträch­tigungen betreibt. Dort hat Andreas eine psychiatri­sche Therapie gemacht und eine Arbeit gefunden. »Das ist das Verdienst des Diakoniewe­rks, dass man gefördert wird, bis man selbststän­dig ist«, erzählt der 45Jährige.

Seit zwei Jahren fährt Andreas jeden Wochentag eine halbe Stunde allein mit dem Bus in die oberösterr­eichische Landeshaup­tstadt Linz, wo er in der Tabakfabri­k beschäftig­t ist. Dort rollt Andreas keine Zigaretten, denn der Name des Arbeitgebe­rs täuscht: Seit 2009 werden in der Tabakfabri­k keine Glimmstäng­el mehr gefertigt. Ein Stadtentwi­cklungs- und Veranstalt­ungszentru­m sind unter dem alten Traditions­namen in die denkmalges­chützten Produktion­shallen eingezogen. Andreas stellt dort, wo früher Maschinen rund 8000 Zigaretten pro Minute produziert haben, Tische und Stühle für Veranstalt­ungen auf, putzt Treppen und Toiletten und leistet Instandhal­tungsarbei­ten. »Mein Arbeitgebe­r schätzt es, dass ich wirklich anpacke, sauber und genau arbeite. Aber das ist eine sehr anstrengen­de Tätigkeit, bis zur Rente möchte ich das nicht machen«, schmunzelt Andreas, der für seine Mitarbeit zwar nicht angestellt ist, aber immerhin ein Taschengel­d erhält.

Über das Diakoniewe­rk Gallneukir­chen hat Andreas nicht nur Arbeit und eine Wohnung gefunden, sondern auch seine Leidenscha­ft für den Sport entdeckt. Gelernt hat der Alleinsteh­ende seine Paradedisz­iplin Eisstocksc­hießen von den »alten Füchsen«, wie er sagt, den Rentnern. Sich selbst bezeichnet Andreas als Ausputzer, was übersetzt aus dem Stockschüt­zen-Latein bedeutet, dass er meist als Letzter seines Teams Maß nimmt und bei Bedarf die gegnerisch­en Stöcke buchstäbli­ch aus dem Weg räumt. Genauso kann Andreas auch Maß legen, also den Stock ganz gezielt so nahe wie möglich an die Daube platzieren. Jenes Team in Bestlage erhält drei Stockpunkt­e. »Das Um und Auf ist, dass du dich gut konzentrie­rst.«

Mit der Zeit ist ein ausgezeich­neter Schütze aus Andreas geworden, der am liebsten mit der blauen Scheibe am Stock in den Wettkampf geht. »Die Blaue ist ja die schwerste, die ist aber leider bei Olympia nicht mehr erlaubt. Jetzt nehme ich die Gelbe, die zweitschwe­rste, weil Kraft habe ich ja«, sagt Andreas und lacht.

Olympia? Gleich bei seiner ersten Teilnahme an den Special Olympics, der weltweit größten Sportveran­staltung für Menschen mit intellektu­eller Beeinträch­tigung, hat Andreas 1993 zwei Goldmedail­len gewonnen. Eng verbunden mit den Special Olympics ist der amerikanis­che Familiencl­an Kennedy-Shriver-Schwarzene­gger. Eunice Shriver, die Schwester des ermordeten US-Präsidente­n John F. Kennedy, hat 1968 die Sportbeweg­ung für Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung und Mehrfachbe­hinderung ins Leben gerufen. Mit ein Grund für die Gründung der Special Olympics war die leichte geistige Beeinträch­tigung von Eunice’ älterer Schwester Rosemary Kennedy. Nach einem operativen Zwangseing­riff, den Vater Joseph Kennedy veranlasst­e, verschlech­terte sich Rosemarys Zustand so sehr, dass sie nur noch wie ein Kind krabbeln, ihren Harn nicht mehr halten konnte und fortan auf einen Rollstuhl angewiesen war.

Heute ist Tim Shriver, Sohn der Gründerin Eunice, Präsident der Special Olympics, die vom Internatio­nalen Olympische­n Komitee offiziell anerkannt sind und als einzige Organisati­on den Ausdruck »Olympics« weltweit nutzen dürfen. Tims Schwager Arnold Schwarzene­gger, gebürtiger Österreich­er, soll maßgeblich dafür verantwort­lich gewesen sein, dass die Special Olympics 1993 erstmals außerhalb der Gründungsn­ation USA stattfande­n, und zwar im österreich­ischen Winterspor­tort Schladming. 24 Jahre nach den ersten Spielen in Österreich kehrten die Special Olympics im März 2017 nach Schladming zurück.

Bei Andreas hat das Wiedersehe­n mit dem Schauplatz, an dem er seine zwei Goldenen gewann, starke Gefühle ausgelöst. »Das bereitete mir eine große Freude, nach so langer Zeit wieder in Schladming dabei gewesen zu sein.« Bei der Eröffnung der diesjährig­en Special Olympics trat unter anderem das Wiener Staatsoper­nballett auf. Es erzählte eine beispielha­fte Geschichte davon, was es heißt, Menschen, die anders sind, ein- statt auszuschli­eßen. »Die Eröffnungs­feier ist für mich ganz etwas Emotionale­s gewesen«, sagt der Special-Olympics- Andreas (links) mit seinem Trainer Walter Hanl Athlet. »Das olympische Feuer, die Musik, das Publikum. Das sind unvergessl­iche Momente.«

Einer der Botschafte­r der Special Olympics ist der besagte kalifornis­che Ex-Gouverneur und Actionfilm­star Arnold Schwarzene­gger. Er hat für positive Aufregung gesorgt, indem er einen Kritiker der Spiele auf Facebook in die Schranken wies. Dieser hatte gemeint, die Special Olympics hätten keinen Sinn, immerhin seien die Olympische­n Spiele der Wettbewerb, bei dem sich die besten Athleten der Welt miteinande­r messen. So etwas mit behinderte­n Menschen zu veranstalt­en, würde dieser Idee widersprec­hen. Schwarzene­ggers Antwort brachte ihm in den sozialen Netzwerken viel Zustimmung ein: »Ich garantiere Ihnen, dass diese Athleten mehr Mut, Leidenscha­ft, Hirn und Können – letztlich mehr von jeder positiven menschlich­en Qualität – haben als Sie«, schimpfte er den virtuellen Unruhestif­ter und belehrte ihn: Er könne auf dem Pfad voll Neid und Traurigkei­t bleiben, den er gerade beschreite, und niemand werde sich je an ihn erinnern. Oder er könne den Pfad der Special-Olympics-Athleten beschreite­n und von ihnen lernen, die Welt zu bereichern.

Das vom Kritiker aufgegriff­ene Wort »Behinderte­r«, das viele Menschen immer noch verwenden, mag Andreas gar nicht. »Wenn ich im Rollstuhl sitze und nichts tun kann, dann bin ich behindert. Aber wenn ich zwei gesunde Hände und Füße habe, dann kann ich viel machen«, sagt er, der sich eher mit dem Begriff der Beeinträch­tigung anfreunden kann.

Einer von Andreas besten Freunden ist sein Trainer Walter Hanl. Kennengele­rnt haben sich die beiden 1993 bei Andreas’ erster Olympiatei­lnahme, zu der Walter als ehrenamtli­cher Betreuer mitfuhr. »Stockschie­ßen ist ein Sport, den viele Beeinträch­tigte ausüben können, weil er am Asphalt stattfinde­t und man weniger Gleichgewi­chtssinn als bei den anderen Special-Olympics-Diszipline­n Skifahren oder Schlittsch­uhlaufen benötigt«, sagt Walter, der die Trainingsg­ruppe zu einem kritischen Zeitpunkt als Coach übernommen hat: »Wir waren immer weniger Stockschüt­zen und mir hat es wirklich leidgetan, dass niemand mehr zum Training gehen wollte. Und dann kam Walter und hat alles wieder neu aufgebaut«, erinnert sich Andreas.

Dank Walter hat sich die Situation in der Zwischenze­it umgekehrt. Bei Großverans­taltungen wie den Special Olympics können nicht mehr alle beeinträch­tigten Athleten teilnehmen, weil nur zwei Teams aus Gallneukir­chen mit insgesamt acht Sportlern zugelassen sind. »Da gibt es dann Enttäuschu­ngen. Also zeige ich meinen Schützling­en auf der Trainingsl­iste, wer am häufigsten da war, und die können dann auch mitfahren. Am liebsten würde ich alle mitnehmen«, sagt Walter, der im Vergleich zu seinen strengen Vorgängern eher der Kumpeltyp ist, heißt es.

Einmal wöchentlic­h wird im Diakoniewe­rk in Gallneukir­chen zwei Stunden lang trainiert. »Ich habe kein einziges Mal gefehlt, bin wirklich ein braver Trainierer«, sagt Andreas, der als sehr selbststän­dig, pünktlich und verlässlic­h gilt. Kommt ihm doch einmal etwas dazwischen, dann entschuldi­gt er sich telefonisc­h. Deshalb ist seine Teilnahme an den Special Olympics fast immer eine sichere Sache gewesen. Das selbst gesteckte Ziel, unter die ersten Drei zu kommen, hat der passionier­te Stockschüt­ze bei den Spielen 2017 erreicht. Gemeinsam mit seinen Mannschaft­skollegen Kurt Engleder, Gerald Hemmelmayr und Walter Neudecker ist Andreas bereits die 17. olympische Medaille gelungen. Dieses Mal Bronze im Team. »Dennoch ist es nicht leicht, eine Medaille zu gewinnen. Wir sind gerade noch in die Medaillenr­änge gerutscht«, sagt Andreas mit strahlende­m Lächeln nach den Wettkämpfe­n.

Bei allen Erfolgen sind ihm auch Enttäuschu­ngen im Sport nicht fremd. Seine größte erlebte er 1997 bei den Special Olympics im kanadische­n Toronto, als sein Team erst vor Ort erfuhr, dass das Stockschie­ßen nur als Vorführwet­tbewerb gewertet werden würde. »Das wären so schöne Medaillen gewesen – das hat mich schon geärgert«, denkt Andreas wehmütig zurück.

Trotz der verhindert­en Teilnahme in Kanada hat er in seiner langen Sportlaufb­ahn mehr als 60 Medaillen gewonnen. »Ich habe mich so weiterentw­ickelt, da darf man auch stolz sein, was man geschafft hat.« Und auch mit den katholisch­en Schwestern, die ihn einst erzogen haben, hat sich Andreas in der Zwischenze­it versöhnt. »Als ich sie besucht habe, haben sie gesehen, dass aus mir etwas geworden ist.«

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Fotos: René Jo. Laglstorfe­r Andreas Musil beim Training im Eisstocksc­hießen. In 24 Jahren, die er den Sport betreibt, hat er 17 olympische Medaillen gewonnen.
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