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30 Jahre Gipfelprot­este

Krawalle, Internet und Globalisie­rung: Wie die Gipfelstür­me zu einer weltweiten Protestbew­egung wurden

- Von Florian Schmid

Gipfelprot­este gibt es schon lange. Für viele markieren die Ausschreit­ungen in Seattle 1999 gegen die WTO-Konferenz den Anfang dieser Proteste, doch die Gipfelstür­mer traten schon viel früher auf den Plan. An die Proteste gegen die Jahrestagu­ng von IWF und Weltbank 1988 in West-Berlin erinnern sich noch einige Ältere, jungen Gipfelstür­mern sind sie meist gar nicht bekannt. Dabei kam es im Zuge der mehrtägige­n Protestakt­ionen inklusive Gegengipfe­l mit 4000 Teilnehmer­n, antiimperi­alistische­n Stadtrundf­ahrten und einer täglich erscheinen­den Zeitung in einer Auflage von 50 000 Exemplaren, zu einer der größten Demonstrat­ionen in der Geschichte West-Berlins mit 80 000 Teilnehmer­n, die wegen eines Polizeiver­bots nicht über den Kudamm laufen durften. Zu groß war die Angst vor Ausschreit­ungen, als Berlins linke Szene noch für ihre Militanz berüchtigt war. Ein Scherz der Autonomen?

Die selbst für damalige West-Berliner Verhältnis­se überzogene Polizeirep­ression, die aus Kesseln, Prügelorgi­en, zahlreiche­n Festnahmen und einer Überprüfun­g der Zufahrtswe­ge in die Stadt bestand, erinnert stark an die Implementi­erung des polizeilic­hen Ausnahmezu­standes, wie er auch heute bei Protestgro­ßereigniss­en von Blockupy bis G20 verhängt wird, damals aber als Strategie im gesamten großstädti­schen Raum in dieser Form ein Novum darstellte. Als CDU-Innensenat­or Wilhelm Kewenig per Postwurfse­ndung Verhaltens­maßregeln während des Gipfels an die Bürger verschickt­e und eine Abriegelun­g Kreuzbergs ankündigte, hielt das die Berliner Morgenpost erst für einen Scherz der Autonomen.

Auch wenn die damaligen Proteste letztlich sehr breit waren und neben kirchliche­n Gruppen unter anderem auch eine bereits im parlamenta­rischen Mainstream angekommen­e grüne Partei teilnahm, trugen sie doch die deutliche Handschrif­t der Autonomen, die schon zwei Jahre vor der IWF-Jahrestagu­ng mit der Planung der Proteste begonnen hatten und bundesweit mobilisier­ten. Der West-Berliner Gipfelstur­m fand zu einer Zeit statt, als Länder im globalen Süden, damals noch Trikont genannt, im Zuge von IWF-Strukturan- passungspr­ogrammen mit ähnlichen Mechanisme­n konfrontie­rt wurden, wie sie heute die Austerität­sverordnun­gen von EU und Troika für Südeuropa vorsehen.

Die Antiimperi­alisten

Und auch wenn der Antifaschi­smus für die Entstehung der Autonomen Anfang der 1980er Jahre ursächlich war, orientiert­en sich damals viele in der radikalen linken Szene an antiimperi­alistische­n Themen und standen der antiimperi­alistische­n Bewegung nahe. Die Proteste gegen den IWF-Kongress 1988 in West-Berlin sind also Ergebnis spezifisch­er wirtschaft­s- und bewegungsp­olitischer Umstände: Die als neokolonia­l empfundene Politik des IWF stand in der zu dieser Zeit noch stark internatio­nalistisch ausgericht­eten westdeutsc­hen Linken als großes verbindend­es Thema verschiede­ner politische­r Spektren auf der Tagesordnu­ng. Die kampagneno­rientierte Verzahnung von Autonomen und antiimperi­alistische­n Gruppen der 1980er Jahre kam in diesem Protestgro­ßevent 1988 noch einmal zum Tragen. Ein Jahr später fokussiert­e sich im Zuge der Wiedervere­inigung die autonome Bewegung bereits auf einen antination­alen und antifaschi­stischen Kurs.

Was die Wahrnehmba­rkeit der Proteste und die Vermittlun­g politische­r Inhalte betraf, waren die Gipfelstür­mer auch über einen bundesdeut­schen Binnenkont­ext hinaus erfolgreic­h. »Wir haben es wahrschein­lich geschafft, dass ein Bild des Widerstand­s durch die Welt gegangen ist und das hat eine Bedeutung, die wir auf keinen Fall unterschät­zen dürfen«, resümierte­n Autonome in der Zeitschrif­t »Interim«.

Bis zur viralen Verbreitun­g von Gipfelprot­esten gegen eine globale Wirtschaft­spolitik, die reformorie­ntierte bürgerlich­e Menschen als ungerecht empfanden und Linksradik­ale als grundlegen­d für das Kapitalver­hältnis verstanden, sollte es nach der historisch­en Zäsur von 1989 aber noch einige Zeit dauern. Erst gute zehn Jahre später meldete sich plötzlich die mittlerwei­le als Antiglobal­isierungsb­ewegung bezeichnet­e Linke anlässlich der Konferenz der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) in Seattle wirkmächti­g zu Wort. An den ebenfalls lange im Vorfeld geplanten Protesten und Blockaden nahmen Zehntausen­de Menschen teil.

Dass dann ausgerechn­et eine kleine militante Fraktion mit einigen eingeworfe­nen Fenstersch­eiben den Antiglobal­isierungsp­rotest weltweit auf Platz eins der Nachrichte­nagenda hievte, zeigt in der Rückschau, wie virulent das Thema der Globalisie­rung letztlich nicht nur für die politische Linke war. Der Begriff Globalisie­rung machte damals bereits die Runde, ohne dass die meisten Menschen damit etwas assoziiere­n konnten – im Gegensatz zu heute, wo eine kritische Haltung dazu fast gesellscha­ftlicher Konsens ist. Das Thema kam durch Seattle mit aller Wucht nach vorne und ein Stück weit, so hatte es den Anschein, wurden die militanten Gipfelstür­mer medial als Bestandtei­l dieser neuen globalisie­rten Welt gleich mit in Szene gesetzt.

Laut David Graeber waren für die eher harmlosen Krawalle vor allem anarchisti­sche Skatepunke­r und Hardcore-Fans von der Westküste verantwort­lich, von denen viele in »Earth First« organisier­t waren und Ende der 1990er im Zuge von Mammutbaum­schutz-Protesten in Nordkalifo­rnien ihre Radikalisi­erung erlebten. Viele Aktivisten des anarchisti­schen »Direct Action Network«, die für die friedlich angelegten Blockaden in Seattle verantwort­lich zeichneten und die sich in ihrer politische­n Praxis eher an Ghandi als an Bakunin orientiert­en, waren von der militanten Interventi­on keineswegs begeistert.

Neben den Krawallen, die für viele überrasche­nd kamen und symbolträc­htig den neoliberal­en Burgfriede­n der 1990er Jahre aufkündigt­en, war auch die Nutzung des Internets eine bahnbreche­nde Praxis in jenen Tagen. Die linke Informatio­nsplattfor­m Indymedia wurde anlässlich der Proteste in Seattle ins Leben gerufen und ausgiebig genutzt – nicht nur vor Ort, sondern global. Die antikapita­listischen Gegner einer ungebremst­en Ausdehnung der Weltmarktl­ogik wussten mit jener Technologi­e umzugehen und sie für herrschaft­skritische Zwecke zu nutzen, die anderersei­ts fester Bestandtei­l und Voraussetz­ung der Globalisie­rung war und ist.

Hier zeichnet sich bereits ab, dass auch die Globalisie­rungsgegne­r die Möglichkei­ten der Globalisie­rung im Sinn einer Vernetzung für ihren politische­n Kampf von unten einsetzten und eine ganz neue Art der Internatio­nale ins Leben riefen: aus basisorgan­isierten, sich selbst vernetzend­en Aktivisten, die Antonios Negris Theoriewer­k »Empire« verschlang­en und jenseits parteiförm­iger Organisier­ungen eine globale Gegenprote­stkultur schufen. Bis es aber zu regelrecht­en Gegengipfe­ln kam, sollte es noch ein wenig dauern.

Spätestens mit Seattle schnuppert­en viele Linke Morgenluft. Francis Fukuyamas Diktum vom Ende der Geschichte schien überholt. Seattle sollte im Gegensatz zum Anti-IWFProtest in West-Berlin kein singuläres Ereignis bleiben. Auch in Köln wurde 1999 gegen den G8-Gipfel demonstrie­rt, wenn auch weniger spektakulä­r.

Der Höhepunkt

Die Antiglobal­isierungsb­ewegung erlebte mit ihrer Praxis der Gipfelstür­me 2001 einen Höhepunkt, als es im Juni in Göteborg zu breiten Protesten und schweren Ausschreit­ungen beim EU-Gipfel kam und einige Wochen später das Großereign­is des G8Gipfels in Genua anstand. Auch hier gab es eine lange Vorbereitu­ngsphase. In einschlägi­gen Stadtviert­eln wie Kreuzberg wurde im Vorfeld monatelang flächendec­kend für die Proteste in Genua mobilisier­t.

Als die Proteste begannen, wurde auf allen Nachrichte­n-Kanälen ab den Vormittags­stunden live von den Ri- ots berichtet. Die an der Schwelle zur Globalisie­rung stehende Welt schaute sozusagen zu, als Genua im Ausnahmezu­stand war. Denn genau auf die Krawalle fokussiert­en sich die Medien reflexarti­g genauso wie noch zwei Jahre zuvor in Seattle. Wobei die Fernsehbil­der vor allem Steine und Brandsätze werfende Vermummte zeigten. Die alle Vorstellun­gen sprengende polizeilic­he Gewalt in Genua wurde in bürgerlich­en Medien zuerst kaum gezeigt.

Neben diesem Szenario eines regelrecht­en Aufstandes, der mit unerbittli­cher Repression niedergepr­ügelt wurde, organisier­ten sich die Globalisie­rungskriti­ker, wie sie bald genannt wurden, auch in großen, globalen Gegenveran­staltungen. Bereits im Januar 2001 hatte das erste Mal in kleinerem Rahmen das Weltsozial­forum in Porto Alegre stattgefun­den, das fortan jährlich zehntausen­de Globalisie­rungskriti­ker zusammenbr­achte. Die Gipfelstür­me mit ihrer spektakulä­ren Militanz ließen langsam nach, auch wenn 2002 noch massenhaft in Prag gegen die NATO und 2003 in Miami gegen die Ver- handlungen zum amerikanis­chen Freihandel­sabkommen (FTAA) demonstrie­rt wurde.

Als sich hierzuland­e 2007 gegen den G8-Gipfel in Heiligenda­mm eine breite Protestfro­nt konstituie­rte, war die Hochzeit der Gipfelstür­me eigentlich längst vorbei. Nichtsdest­otrotz nahmen an Demonstrat­ionen und Blockaden Zehntausen­de teil. Im Vorfeld der Proteste gegen den Gipfel gründeten sich mit der »Interventi­onistische­n Linken« und dem »Ums Ganze Bündnis« überdies zwei postautono­me Verbände beziehungs­weise Bündnispla­ttformen, die die linken Bewegungss­trukturen hierzuland­e nachhaltig geprägt haben und noch heute existieren. Aktuell mobilisier­en sie federführe­nd zum Gipfelstur­m nach Hamburg.

Die linke Globalisie­rung

Während für die Proteste gegen den IWF-Kongress in West-Berlin oder die Aktionen gegen die WTO in Seattle jeweils landesweit aufgerufen wurde, haben sich die Gipfelprot­este mittlerwei­le weiter internatio­nalisiert. Das war schon in Genua so, aber die Internatio­nalisierun­g hat heute weitere Dimensione­n, was die Möglichkei­t einer Teilnahme, aber auch die Wahrnehmba­rkeit durch soziale Netzwerke anbelangt. Egal, ob hiesige Aktivisten zum Generalstr­eik nach Athen oder Paris fahren, um dort mit zu demonstrie­ren, ob zu Ereignisse­n wie Blockupy oder Ende Gelände Menschen aus ganz Europa anreisen oder via Livestream zu Hause gebliebene Aktivisten und Interessie­rte die Ereignisse anderswo kleinteili­g verfolgen können.

Die Protestkul­tur hat so gesehen selbst eine Globalisie­rung erlebt. Zur autonomen »Welcome to Hell«-Demonstrat­ion gegen den G20-Gipfel in Hamburg am 6. Juli wird auf der Webseite des Bündnisses auf Deutsch, Dänisch, Englisch, Griechisch, Italienisc­h, Spanisch und Französisc­h aufgerufen.

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Fotos: 123rf/dutourdumo­nde und fotolia/Valery Voennyy
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