Libyen vor Neubeginn?
Zum Tode verurteilter Saif al-Islam aus dem Gefängnis entlassen und für politisches Comeback im Gespräch
Saif al-Islam Gaddafi wird als Integrationsfigur gehandelt.
Zwei Personen haben kürzlich die politische Bühne Libyens neu bzw. wieder betreten: ein Diktatorensohn und ein UN-Beauftragter. Nun könnte Bewegung in die ausweglos scheinende Lage kommen. Wird bald wieder ein Gaddafi Libyen regieren? Ausgeschlossen werden kann das zumindest nicht nach den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen, auch wenn er dann nicht in die USA reisen könnte. Zu den islamischen Ländern, für die das Oberste US-Gericht Einreiseverbote zum Teil und in abgeschwächter Form wieder in Kraft gesetzt hat, gehört auch Libyen. In manchen der betroffenen Staaten wie etwa Iran wird dies erheblichen Protest auslösen, wird es doch wohl völlig zu Recht als Versuch von Präsident Donald Trump angesehen, die Teilnahme eines souveränen Staates am internationalen politischen Leben zu sabotieren.
Anders in Libyen. Dort wird der Willkürakt aus dem Weißen Haus von den relevanten politischen Kräften wenn überhaupt, wohl höchstens mit einer Art Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden. Libyen bzw. das 1,76 Millionen Quadratkilometer große Territorium – fast fünfmal soviel wie Deutschland – hat andere Probleme. Seit vor sechs Jahren, ausgelöst und wesentlich befördert durch einen NATO-Luftkrieg, Staatschef Muammar al-Gaddafi von rivalisierenden Clans gestürzt und ermordet wurde, ist das Land in Einflusssphären zerfallen mit zwei Parlamenten und zwei Regierungen.
Dass die westliche Welt nur eine Vertretung, die »Einheitsregierung« in Tripolis, für legitim erklärt und die anderen für illegitim, hat wenig Aussagekraft und blockiert eher die Konfliktlösung, als dass es in dieser Beziehung hilfreich wäre. Das praktische Leben in den Städten und Regionen bestimmt ohnehin jene bewaffnete Gruppe, die dort gerade präsent ist. Die Versuche, die rivalisierenden Parteien soweit miteinander auszusöhnen, dass sie sich auf eine Einheitsregierung verständigen, sind jedenfalls in den vergangenen drei Jahren kläglich gescheitert.
Nun aber könnte etwas Bewegung in die festgefahrene Szenerie kommen. Zwei neue Personen recht gegensätzlicher Provenienz betreten die kriegszerschossene politische Bühne des Landes mit den größten Ölreserven Afrikas: der libanesische Diplomat Ghassan Salamé als neuer UNSondergesandter für Libyen und der Ghaddafi-Sohn Saif al-Islam.
Zunächst zu Salamé: Seine Chancen sind kaum besser als die seines blassen und erfolglosen Vorgängers Martin Kobler (Deutschland), der seit 2015 dieses Amt innehatte. Daran ist in erster Linie die UNO selbst schuld. UN-Generalsekretär António Guterres hatte ursprünglich Salam Fajad für den Posten nominiert, palästinensischer Ministerpräsident von 2007 bis 2013, somit von einigem politischen Gewicht und krisenerfahren. Doch Fajad kam nicht zum Zuge. Die USA drohten – wie zu vernehmen war, auf Betreben Israels – ein Veto gegen ihn an. Die UNO ergreife schon zu lange und »ungerechterweise« Partei für die palästinensische Führung, »zum Nachteil unserer Verbündeten in Israel«, polterte die neue US-amerikanische UN-Botschafterin Nikki Haley. Daraufhin hatte Guterres eingelenkt, ist er doch gerade mit der neuen USAdministration im Gespräch, um sie von der Kürzung ihrer UNO-Beträge abzubringen. Ein diplomatisch verständlicher Schritt, allerdings steht Ersatzmann Salamé, mit dem sich Washington einverstanden erklärte, nun als Mann von Israels Gnaden da, und das ist wahrlich keine Empfehlung in der Region, wenn man Dialog stiften möchte.
Ein erster Test für seine diplomatischen Fertigkeiten dürfte sein, wie er sich zu Saif al-Islam stellt. Gaddafis zweitältester Sohn, der einst als potenzieller politischer Erbe des Revolutionsführers angesehen wurde, war nach dessen Sturz und Ermordung 2011 von den Siegern festgesetzt und 2015 zum Tode verurteilt worden. Einer Aufforderung des Haager Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), Vater und Sohn in die Niederlande auszuliefern, schenkten die Libyer keine Beachtung, zumal das geäußerte Ansinnen wohl mehr Alibicharakter hatte. Von entschiedenem Nachdruck war nichts zu spüren, die Verurteilung Saifs nahm der IStGH ohne Reaktion hin. Überhaupt schien niemand im Westen ernsthaft daran interessiert zu sein, dass der Bombenkrieg der NATO 2011 gegen Libyen irgendei- ne Form der juristischen Aufarbeitung findet.
Aber der höchstrangige Gefangene der neuen Herren in Libyen war bislang nicht hingerichtet worden. Vor zwei Wochen nun hat man Saif al-Islam (»Schwert des Islam«) Gaddafi überraschend aus dem Gefängnis freigelassen. Einer Stellungnahme der Miliz »Abu-Bakr al-Sadiq« zufolge habe das (vom Westen nicht als legitim anerkannte) Parlament mit Sitz in Tobruk eine Generalamnestie erlassen. Bei der erwähnten Abu-Bakr-al-SadiqBrigade handelt es sich um jenen bewaffneten Haufen, der Saif einst ergriff und bis dato in der westlibyschen Stadt Zintan im Gefängnis bewachte. Der 44-jährige Sohn Gaddafis, hieß es von deren Chef, habe die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.
Erstaunlicherweise meldete sich nun der in Sachen Libyen in der Zwischenzeit wenig aktive IStGH zu Wort und verlangte die unverzügliche Überstellung Saifs nach Den Haag. Der 2011 gegen den Gaddafi-Sohn ausgestellte Haftbefehl bleibe »unab- hängig von angeblichen Amnestiegesetzen in Libyen« gültig, erklärte IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda am 21. Juni in Den Haag.
Was die Milizführer im einzelnen bewogen haben mag, der »Amnestie« ohne Widerspruch und unverzüglich stattzugeben, ist von ihnen selbst nicht mitgeteilt worden. Offenbar aber haben jenseits der von der UNO bzw. westlichen Staaten eingerichteter Dialogstrukturen in den vergangenen Monaten Verständigungsversuche stattgefunden, bei denen der als kluger politischer Kopf geltende Saif eine Rolle gespielt haben muss.
Die Moskauer »Iswestija« schreibt, vor allem das Militär, d. h. zu regulären Befehlshabern aufgestiegene Milizenführer, hätten die Freilassung des Gaddafi-Sohnes verlangt. Ein »Gesprächspartner aus der libyschen Armee« habe berichtet, dass man dort jetzt sehr auf eine Unterstützung von Seiten der Stämme im Süden und Westen des Landes hinarbeite. Dort, und das ist kein Geheimnis, sind Sympathien gegenüber der Gaddafi-Ordnung beträchtlich, und sie wachsen; kein Wunder angesichts des Chaos der Jetztzeit.
Dafür bedarf es einer Integrationsfigur, und Saif ist dafür wohl im Gespräch. Es sei nicht ausgeschlossen, dass er für das Amt des Präsidenten vorgeschlagen werde, erklärte der Sprecher der Stammesvereinigung, Basem al-Sol, gegenüber der »Iswestija«. Experten heben indes hervor, dass Saif al-Islam wahrscheinlich einen hohen, ehrenhaften, aber mehr symbolischen Posten bekleiden werde. Sie meinen, der Gaddafi-Sohn genieße die wohl größte Unterstützung seitens der Stämme in Libyen. Gerade deshalb werde er einen Posten bekleiden, der zur Konsolidierung der Gesellschaft des Lan- des beitragen könne, heißt es weiter in dem Blatt.
Wie wird sich der Westen dazu positionieren? Wird er auf den IStGH einwirken, den »Fall Gaddafi jun.« nun auch formell auf sich beruhen zu lassen, um möglichen innerlibyschen Verständigungsinitiativen nicht mit neokolonialer Attitüde im Wege zu stehen? In Frankreich, dem 2011 am meisten kriegstreibenden Staat gegen Libyen, scheint man lernfähig zu sein. Hatten 2011 Präsident Nicolas Sarkozy und sein Außenminister Alain Juppé, damals zum Unwillen der USA, die NATO in den Krieg gegen Gaddafi hineinmanövriert, hört man heute andere Töne aus Paris. Der neue Präsident Emmanuel Macron hat die Beteiligung der Streitkräfte seines Landes an der Libyen-Operation im Jahr 2011 in einem Interview mit dem Mailänder »Corriere della Sera« als »Fehler« bezeichnet.
Macron weiter: »Mit mir kommt diese Form des Neokonservatismus, die vor zehn Jahren von Frankreich importiert wurde, zum Ende. Die Demokratie kann nicht von außen eingebracht werden, ohne dass Völker darin involviert werden. Frankreich war nicht am Irak-Krieg beteiligt und hatte damit recht. Aber es beging einen Fehler, indem es in den LibyenKrieg eintrat. Welches sind die Ergebnisse dieser Invasionen? Zerstörte Länder, in denen Terrorgruppen florieren ...«
Wenn diese Erkenntnis dazu führt, die Politik Frankreichs unter Sarkozy/Juppé und Macrons unmittelbarem Vorgänger François Hollande gegenüber Libyen und übrigens auch Syrien tatsächlich im angedeuteten Sinne zu überdenken, wäre das in der Tat eine Chance für einen wirklichen Neubeginn in Libyen, auch mit Saif al-Islam, mit Salamé.