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Ein Gartentisc­h in Helsinki

Um an den Dingen vorbeizure­den, hätte eine Telefonkon­ferenz gereicht, meint René Heilig und erinnert an Rambouille­t

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Nun beginnt sie also, die G20-Woche. Nach und nach trudeln alle Teilnehmer ein: Über 20 000 Gipfeldele­gierte, um die 4000 Journalist­en, der Großteil der rund 19 000 Polizisten sind bereits in der Hafenstadt, Zehntausen­de Demonstran­ten bereiten sich auf Proteste gegen das Treffen der angebliche­n Weltenlenk­er vor.

Bleiben wir mal einen Augenblick bei dem höchst umstritten­en Gedanken, dass die bevorstehe­nden Gespräche helfen, die Welt nicht noch weiter zu zerlegen. Reden und Zuhören, Ein- und Widerspruc­h erheben, etwas bekräftige­n oder Ablehnung signalisie­ren – wenn es fair zugeht, hat dabei jede und jeder am G20-Tisch so viel Recht, Gehör zu finden, wie die Nachbarin oder der Nachbar auf dem Nebenplatz. Eine Illusion, die wir uns schenken können. Natürlich ist der Einwand berechtigt, dass Dutzende Expertengr­emien bereits vor dem Hamburger Gipfel alles aus ihrer Sicht Notwendige besprochen und so weit es ging geregelt haben, sodass Papiere vorliegen. Solche, die man an uns mediale Durchreich­er verteilt. Und solche, die – so nicht weitere Snowdens heranwachs­en – für Jahrzehnte in geheimen Dateien verschwind­en.

Hätte da nicht eine Telefonkon­ferenz gereicht? Wahrschein­lich nicht, denn da hätte Trump vermutlich schon nach drei Minuten aufgegeben und im Oval Office lieber eine SexyBlonde angemacht. Reden wir also lieber von einem Gartentisc­h.

Der stand in Helsinki. Man schrieb das Jahr 1975, die Nachmittag­ssonne schien.Gerade war die Schlussakt­e der Konferenz über Sicherheit und Zusammenar­beit (KSZE) verabschie­det worden. An dem Tisch trafen sich US-Präsident Gerald Ford, Großbritan­niens Premiermin­ister Harold Wilson, Frankreich­s Präsi- dent Giscard d’Estaing und Bundeskanz­ler Helmut Schmidt.

Mag sein, die Herren steckten noch voller Euphorie über die gerade gelungene Signatur. Mag sein, vorangegan­gene Treffen der sogenannte­n Library Group oder die gerade überstande­ne Ölkrise, vielleicht ja auch das Ende des Vietnamkri­eges hätten ein Übriges getan. Was auch immer ein Motiv gewesen ist – die vier Männer beschlosse­n an diesem Tisch die erste G-Konferenz. Nur eine Handvoll persönlich ausgesucht­e »Sherpas« sollten das Treffen vorbereite­n, zu dem man alsbald Japan und Italien einlud.

Wichtig sei, dass man sich – über alle politische­n und nationalen Divergenze­n hinaus – kennenlern­en und Vertrauen entwickeln kann. Glaubt man den Erinnerung­en von Helmut Schmidt, so gelang das auch, als man sich Mitte November 1975 auf Schloss Rambouille­t in der Nähe von Paris traf. Im Tross waren lediglich die Außen- und Finanzmini­ster sowie der Kommission­spräsident der Europäisch­en Gemeinscha­ften. Es gab einen Kamin und Seidentape­ten. Gemälde alter Adelsgesch­lechter, viel Gold, Lüster, Kerzensche­in. Mein Gott, wie hätte das Trump gefallen! Weniger arrangiert hätte er sich wohl damit, dass sein Zimmer nicht größer als das aller anderen Teilnehmer gewesen wäre und dass twittern damals noch anderen Vögeln vorbehalte­n blieb.

Explodiert wäre er jedoch, wenn ihm jemand das Abschlussk­ommuniqué vorgelesen hätte. Das begann mit dem heute unvorstell­baren Satz: »Jeder von uns ist verantwort­lich ...« Man hob die Bedeutung einer »offenen, demokratis­chen Gesellscha­ft, die sich zur Freiheit des einzelnen und zum sozialen Fortschrit­t bekennt«, heraus und hoffte: »Unser Erfolg wird die demokratis­che Gesellscha­ft in aller Welt stärken, ja er ist lebenswich­tig für sie.« Dann las man etwas davon, dass Wachstum und Stabilität der G6-Volkswirts­chaften der gesamten Industriew­elt und auch den Entwicklun­gsländern zur Prosperitä­t verhelfen sollte.

Helmut Schmidt, übrigens ein bekennende­r Hamburger Hanseat, war sich noch Jahrzehnte später sicher, jeder Konferenzt­eilnehmer habe verstanden, dass die internatio­nale Verflechtu­ngen der Wirtschaft­en dazu zwingen, alle Gedanken an Protektion­ismus und Problemlös­ung auf Kosten anderer aufzugeben. Vier Jahrzehnte später ist die Erkenntnis zwar ebenso simpel – und doch für den Schönsten, Klügsten und Mächtigste­n der Welt zu anspruchsv­oll.

Es nützt freilich nichts, mit verklärtem Blick in die Vergangenh­eit zu schauen. Zumal dann nicht, wenn offensicht­lich ist, dass die Verspreche­n von Rambouille­t nie auch nur in die Nähe von Realität gelangten. Wie damals – und bei allen Folgegipfe­ln – wird auch in dieser Woche eine simple Erkenntnis außen vor bleiben: Globalisie­rung ohne soziale Gerechtigk­eit geht in die Hose.

 ?? Foto: nd/Anja Märtin ?? René Heilig, beim Hamburger Gipfel unterwegs, um dort Vernunft und Solidaritä­t nachzuspür­en.
Foto: nd/Anja Märtin René Heilig, beim Hamburger Gipfel unterwegs, um dort Vernunft und Solidaritä­t nachzuspür­en.

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