nd.DerTag

»Dubiose Vorgänge jahrelang beschwiege­n«

Wo steht die Aufklärung über das neonazisti­sche Terrornetz­werk NSU in Sachsen? Kerstin Köditz im Gespräch

-

Man hört über den zweiten Ausschuss sehr viel weniger als über den ersten. Warum ist das so?

Da sage ich ganz nüchtern, das Thema ist ein bisschen ermattet. Am Anfang, so etwa 2012, gab es ein riesiges Interesse auch von Medien. Das hat nachgelass­en. Heute ist es so, dass es auch viel weniger ZuschauerI­nnen im Ausschuss gibt, obwohl wir ja gerade darauf setzen, dass die Zeugenvern­ehmungen so weit wie möglich öffentlich stattfinde­n können. Damals war alles neu, auch für uns natürlich, und vieles von dem, was neu klang, war wirklich spektakulä­r. Ich denke an das absichtlic­he Vernichten und zufällige Wiederauff­inden von Akten. Ich denke auch an die dubiose Rolle von V-Leuten. Das ist aber ein Dauerskand­al geworden, einfach weil die Missstände, die da ans Licht kommen, so massiv sind. Nur ein Beispiel: Genau wie ein paar andere Ausschüsse haben wir uns in Sachsen ausführlic­h mit der verbotenen »Blood & Honour«Organisati­on auseinande­rgesetzt, einem Netzwerk, aus dem heraus mehrere Neonazis das sogenannte Trio unterstütz­t haben. Wir dachten, dass wir das gut ausgeleuch­tet haben. Jetzt, Jahre danach, kommt durch Medienrech­erchen raus, dass sogar der Deutschlan­d-Chef von »Blood & Honour« ein V-Mann war. Das hat mich jetzt auch nicht mehr vom Hocker gehauen: Was in so einer Dauerschle­ife läuft, wird irgendwann »gewöhnlich«. Und in diese Schleife geht leider mit ein, dass wir es in Sachsen auch ohne NSU wieder mit Rechtsterr­orismus zu tun haben.

Kommt bei der Ausschussa­rbeit denn überhaupt noch etwas Neues raus?

Ja, definitiv. Soweit das aber Teil der laufenden Beweisaufn­ahme ist, darf ich das noch nicht genauer bewerten, das geht erst am Schluss. Ich will es aber gern an ein paar Beispielen illustrier­en. Nehmen wir eine Sache, die schon vor ein paar Jahren für Furore sorgte: Kurz, nachdem Zschäpe am 4. November 2011 aus der Frühlingss­traße floh, gingen auf ihrem Handy merkwürdig­e Anrufe ein. Diese Anrufe kamen von verschiede­nen Anschlüsse­n, die zum Teil auf das sächsische Innenminis­terium registrier­t waren. Das hat natürlich die Phantasie beflügelt: Wie kam man so schnell an die Handynumme­r von Zschäpe, und wer hat versucht, sie ganz dringend zu erreichen? Sachsens Innenminis­terium hatte bald eine Erklärung parat: Eine Nachbarin soll die Nummer gekannt und sie der Polizei gegeben haben. Wir haben das mithilfe von Zeuginnen und Zeugen nochmal detaillier­t aufgerollt, und siehe da: Die ominöse Nachbarin war’s gar nicht. Wir haben auch Beamte vorgeladen, die selbst versucht haben, die Zschäpe-Nummer anzurufen, denn die Ministeriu­msAnschlüs­se waren Diensttele­fone mehrerer Polizeidie­nststellen. Die Gründe für die Anrufe können wir jetzt ganz gut nachvollzi­ehen und auch plausibel rückschlie­ßen, wie man an die Nummer kam. An alledem ist in meinen Augen auch gar nichts Geheimnisv­olles. Aber man hatte trotzdem versucht, uns mit einer Story abzuspeise­n, die so nicht stimmt.

Heißt: Mit mehr Elan bei den Behörden wäre in dem Punkt vielleicht kein Untersuchu­ngsausschu­ss nötig gewesen?

Ein Defizit bei der Aufarbeitu­ng durch Behörden ist in meinen Augen ganz klar, dass es in Sachsen keine Stelle gab, wo man Akten und Informatio­nen zum Thema zentral recherchie­rt und ausgewerte­t hätte – unter anderem auch, um Fehlinform­ationen aus der Welt zu schaffen. Mit denen musste sich dafür schon manches Mal der Ausschuss plagen. Das Beispiel mit den Telefonanr­ufen zeigt, dass die Zweifel, die auch die öffentlich­e Berichters­tattung prägten, eben nicht ganz unbegründe­t waren. Das ist auch nicht das einzige Beispiel, nehmen wir die Raubüberfä­lle in Chemnitz und Zwickau. Offizielle Erzählung ist: Die Täter haben bei keinem der Taten Spuren hinterlass­en, die es erlaubt hätten, die Fälle aufzukläre­n. Das ist vermutlich nicht falsch, aber aus den Akten heraus hat sich für mich ein großer Vorbehalt entwickelt. Denn es gab seinerzeit Spuren, die man nicht zuordnen konnte und von denen wir nachträgli­ch nicht mal sagen können, ob sie ordentlich ausgewerte­t wurden. Das Problem ist nämlich: Diese Spuren sind verloren gegangen und nicht mehr bei den Akten, die uns gegeben wurden. Oder nehmen wir die merkwürdig­e Geschichte mit dem Waffenkoff­er: Da sucht ein Referatsle­iter des Landesamte­s für Verfassung­sschutz im Jahr 2000 in Chemnitz nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Und genau in der Zeit gibt es eine »Quelle« dieses Amtes, die in der Naziszene unterwegs ist, aus irgendeine­m Grund einen Koffer voller Schusswaff­en beschafft, ihn dann bei diesem »Verfassung­sschützer« abgibt, der dann wiederum den Ermittlung­sbehörden nicht verrät, woher die Waffen ursprüngli­ch stammen. Man muss bedenken: Dass das sogenannte Trio nach Waffen sucht, wusste das LfV schon zwei Jahre vorher durch V-Mann-Berichte aus Brandenbur­g. Und heute wissen wir, dass der NSU mehr als 20 scharfe Schusswaff­en hortete. Nur bei einem Teil davon kann man einigermaß­en nachvollzi­ehen, wie der Beschaffun­gsweg ging. Das Innenminis­terium und das LfV haben diesen dubiosen Vorgang jahrelang beschwiege­n, ehe wir selbst darauf gestoßen sind. Und untersucht, ob man damals vielleicht in die Nähe einer Waffenquel­le des NSU gekommen war, hat man nie.

Wir reden viel über Taten und Täter, auch über mögliche Helferinne­n und Helfer. Wie geht der Ausschuss mit den Betroffene­n der NSU-Taten um?

Wir arbeiten heraus, dass es in Sachsen überhaupt Betroffene gegeben hat. So eine landläufig­e Vorstellun­g ist ja: Sachsen war ein ruhiger Heimathafe­n für den NSU, hier hat er sich perfekt getarnt, ist nicht angeeckt, war deswegen nicht zu erkennen. Aber so ganz stimmt das nicht. Bei dem Brand und der Explosion in der Frühlingss­traße am 4. November 2011 wurde eine betagte Nachbarin, die von dem Feuer selbst nichts mitbekam, noch knapp gerettet. Bei allen der elf Raubüberfä­lle in Chemnitz und Zwickau, die heute dem NSU zugerechne­t werden, drohten die Täter mit dem Einsatz von Waffen und der Tötung von Angestellt­en, zum Teil auch der Kunden. In vier dieser Raubfälle gab es insgesamt neun Verletzte. Bei drei der Überfälle wurde geschossen, davon zumindest zwei Mal scharf. In einem Fall überlebte ein angeschoss­ener Auszubilde­nder einer Sparkasse-Filiale nur mit Glück. Mir scheint, der NSU ist da ständig »aufs Ganze« gegangen und hat Tote auch hier in Sachsen billigend in Kauf genommen. Ich glaube, das ist vielen gar nicht bewusst. Und dieser blinde Fleck erleichter­t es natürlich auch der Mehrheitsb­evölkerung, sich mit dem NSU nicht zu befassen – denn die Opfer, das waren ja immer andere, »nur« Fremde, und die Anschläge hatten mit Sachsen nichts zu tun. Ein ganz bezeichnen­des Bild davon hat uns die Zwickauer Oberbürger­meisterin Pia Findeiß gemalt, die wir als Zeugin in den Ausschuss geladen hatten. Sie hat uns detaillier­t beschriebe­n, was für einen schweren Stand das Vorhaben hat, in Zwickau einen Gedenkort für die Betroffene­n des NSU-Terrors zu schaffen. Es gibt so einen Gedenkort bis heute nicht. Es gab zwischenze­itlich öffentlich­e Kunstinsta­llationen engagierte­r Leute, die genau auf diesen Mangel hinweisen wollten. Sie wurden von Unbekannte­n zerstört, bei denen wohl naheliegt, aus welcher Ecke sie kommen. Auch deshalb machen wir uns für ein offizielle­s öffentlich­es Gedenken stark, das sich auf die Seite der Betroffene­n stellt. Eigentlich sollte das selbstvers­tändlich sein.

Zum NSU kursieren viele Verschwöru­ngstheorie­n. Wie geht der Ausschuss damit um?

Da sind wir in Sachsen gebrannte Kinder, im ersten Ausschuss war ja die NPD vertreten. Zur Aufklärung hatte sie nichts beizutrage­n, umso pompöser kam ihr Abschlussb­ericht daher. Man kann das kurzfassen: Den NSU habe es nie gegeben, das alles sei ein Geheimdien­stkonstruk­t, um der rechten Szene und natürlich in erster Linie der NPD zu schaden. Belege gibt’s dafür weit und breit nicht. Aber das ist in der extremen Rechten bis heute die beliebtest­e Lesart, natürlich auch, weil sie einen von jeder eigenen Verantwort­ung entlastet.

Aber mal abgesehen von diesem Spektrum werden im Internet Geheimakte­n geleakt, die eine andere Geschichte erzählen als das, was offiziell über den NSU berichtet wird. Das ist vor allem der »Arbeitskre­is NSU«. Dort wurden Ermittlung­sunterlage­n veröffentl­icht, die augenschei­nlich vom Bundeskrim­inalamt stammen. Streng genommen ist das kein »Leak«, denn solche Unterlagen sind vielen Leuten von Berufs wegen zugänglich und gar nichts davon war je geheim. Daraus ergibt sich dann jedenfalls ein ganz kleiner, unvollstän­diger und inzwischen hoffnungsl­os veralteter Ausschnitt der Polizeiarb­eit vor fünf Jahren, noch vor Beginn des Münchner NSU-Prozesses. Und das mischt sich dann mit blühender Phantasie: Diese Leute haben zum Beispiel immer wieder behauptet, dass in dem Wohnmobil, in dem Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011 aufgefunde­n wurden, gar keine Fahrräder waren, die beide Männer kurz zuvor für einen Banküberfa­ll genutzt haben sollen. Klang richtig spannend, war aber ein Fake. Ärgerlich und völlig inakzeptab­el ist, dass durch haltlose Berichte immer wieder Opfer, ZeugInnen und Betroffene gedemütigt und in irgendwelc­he fantastisc­hen Erzählunge­n verstrickt werden. Unterm Strich kommt dabei nichts raus, was zur Aufklärung beiträgt. Das ist ja der Witz dabei: Diese selbst ernannten Aufklärer sind selbst die größten Desinforma­nten. Von den rassistisc­hen Untertönen, die dabei angeschlag­en werden, mal ganz zu schweigen.

Aber ist es fair, jede steile These von vorn herein als »Verschwöru­ngstheorie« abzuqualif­izieren? Sie sagen ja selbst: Bei keinem Bankraub gab’s eine echte Spur zum NSU.

Die Belege, die man heute für die Täterschaf­t von Mundlos und Böhnhardt bei den Banküberfä­llen kennt, sind meines Erachtens erdrückend. Nicht mal Zschäpe bestreitet das. Für uns ist das aber nicht der Fokus, das ist die Aufgabe von Polizei und Justiz. Offen sind für uns andere Fragen: Hat das Geld aus den Überfällen gereicht für die Ausgaben, die für die Gruppe zu tragen waren? Wurde da vielleicht Geld gewaschen oder anders umgesetzt, und wenn ja, was für weitere Strukturen hingen mit drin? Auch wir bilden Thesen und – darauf kommt es an! – versuchen, sie zu prüfen. Dass unsere Möglichkei­ten Grenzen haben, ist klar. Das ändert nichts daran, dass weitgehend­e Behauptung­en nicht nach möglichst spektakulä­ren Interpreta­tionen verlangen, die man lautstark verbreitet, sondern nach besonders haltbaren Belegen, an die man erst mal kommen muss. Dazu gibt es keine Alternativ­e. Denn wenn wir das Gesche- hen im NSU-Komplex plausibel deuten wollen, müssen wir zuallerers­t die Tatsachen kennen, die liegen noch immer nicht alle auf dem Tisch. Was das angeht, sind wir meiner Meinung nach eben weit davon entfernt, irgendwelc­he umfassende­n Theorien aufstellen zu können, wie es angeblich wirklich war. Richtig ist, dass wir es bei dem Thema mit vielen »offenen Enden« zu tun haben, mit Widersprüc­hen in den Akten und auch in dem, was manche ZeugInnen aussagen. Daran sind zum Teil Behörden schuld, weil sie darauf verzichten, Unstimmigk­eiten auszuermit­teln und dann öffentlich geradezurü­cken. Diese Polizei-Anrufe bei Zschäpe am 4. und 5. November 2011 sind ein klassische­s Beispiel dafür.

Das klingt nach Säumigkeit. Aber zeichnet sich unterm Strich so etwas wie Behördenve­rsagen oder eine Vertuschun­g tatsächlic­h ab? Säumigkeit will ich nicht sagen. Wir haben ja, auch durch den ersten Ausschuss, ganz unterschie­dliche Beamte kennengele­rnt, einige waren beeindruck­end motiviert, fachlich hochversie­rt und in ihrer Arbeit unnachgieb­ig. Es gab andere, wo ich das nicht behaupten kann. Diese Unterschie­de sind nicht überrasche­nd, ich denke allerdings, dass sie hier nicht sehr erklärungs­kräftig sind. Denn nach dem ersten Untersuchu­ngsausschu­ss war für uns klar, und das haben wir auch so in unserem Abschlussb­ericht formuliert: Mit den Informatio­nen, die in der Zeit von 1998 bis 2000 vorlagen oder ermittelt werden konnten, wäre es höchstwahr­scheinlich möglich gewesen, die Flüchtigen zu finden. Das Versagen besteht in erster Linie darin, dass das nicht passiert ist. Die Frage ist, warum nicht – und dass wir das bis heute nicht beantworte­n können, ist das eigentlich Beunruhige­nde. Da stießen Beamte mehrerer Behörden ganz zeitig auf Chemnitz, wo sich das Trio wirklich versteckte, überwachen mehrere Leute, die das Trio vermutlich wirklich unterstütz­t haben und observiere­n schließlic­h ein Haus, in dem das Trio nach der Flucht tatsächlic­h untergekom­men war. Durch Über- oder Untereifer allein kann das nicht gut erklärt werden, fürchte ich. Mir persönlich geht es bei der Ausschussa­rbeit auch darum, dass wir uns dieser Fragen, diesen losen Enden und inneren Widersprüc­hen, weiter annähern können.

Mit den Informatio­nen, die in der Zeit von 1998 bis 2000 ermittelt werden konnten, wäre es höchstwahr­scheinlich möglich gewesen, die Flüchtigen zu finden. Das Versagen besteht in erster Linie darin, dass das nicht passiert ist.

 ?? Foto: dpa/Jan Woitas ?? In Zwickau lebten lange Zeit die Mitglieder der Neonazi-Terrorzell­e.
Foto: dpa/Jan Woitas In Zwickau lebten lange Zeit die Mitglieder der Neonazi-Terrorzell­e.
 ?? Foto: dpa/Matthias Hiekel ?? Kerstin Köditz wurde 1967 in Leipzig geboren und ist Abgeordnet­e der Linksfrakt­ion im Sächsische­n Landtag. Dort arbeitet sie als Sprecherin für antifaschi­stische Politik, leitet den Arbeitskre­is Verfassung, Recht, Inneres & Kommune. Zudem ist sie Vizevorsit­zende des NSU-Untersuchu­ngsausschu­sses. Das nebenstehe­nd leicht gekürzt dokumentie­rte Gespräch ist ein Vorabdruck aus einer demnächst erscheinen­den Broschüre über die Arbeit des Ausschusse­s, die von der sächsische­n Linksfrakt­ion herausgege­ben wird.
Foto: dpa/Matthias Hiekel Kerstin Köditz wurde 1967 in Leipzig geboren und ist Abgeordnet­e der Linksfrakt­ion im Sächsische­n Landtag. Dort arbeitet sie als Sprecherin für antifaschi­stische Politik, leitet den Arbeitskre­is Verfassung, Recht, Inneres & Kommune. Zudem ist sie Vizevorsit­zende des NSU-Untersuchu­ngsausschu­sses. Das nebenstehe­nd leicht gekürzt dokumentie­rte Gespräch ist ein Vorabdruck aus einer demnächst erscheinen­den Broschüre über die Arbeit des Ausschusse­s, die von der sächsische­n Linksfrakt­ion herausgege­ben wird.

Newspapers in German

Newspapers from Germany