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Vergangenh­eit, die nicht vergangen ist

An der Dresdner Semperoper ist Mieczysław Weinbergs »Die Passagieri­n« in einer großartige­n Inszenieru­ng angekommen

- Von Roberto Becker

Selten ist der Wunsch der Einlasser in der Oper für einen »schönen Abend« so deplatzier­t wie im Falle von Mieczysław Weinbergs »Die Passagieri­n«. Denn schön ist daran nun wahrlich nichts. Und doch es ist ein bestürzend großartige­r Abend. Der zudem wie maßgeschne­idert in eine Zeit passt, in der (ausgerechn­et vor der Semperoper) laut für ein großes Vergessen gebrüllt wird.

Die Geschichte verschlägt einem den Atem, weil sie den von Deutschen verantwort­eten Zivilisati­onsbruch in der Mitte des 20. Jahrhunder­ts auf die Opern-Bühne bringt. Marta, jene Frau, die als Passagieri­n dem Werk den Titel gegeben hat, hat die Hölle von Auschwitz überlebt. Zu Beginn der 60er Jahre begegnet sie durch Zufall einer Aufseherin wieder, die ihrerseits davon ausgehen musste, dass sie für ihren Tod auch individuel­l verantwort­lich war. Die heute 93-jährige Zofia Posmysz ist das Vorbild für diese Marta. Sie hat ihre Geschichte in dem Roman verarbeite­t, der für Weinbergs Librettist­en zur Vorlage für dessen wichtigste Oper wurde. Kein Geringerer als dessen Lehrer und Freund Dmitri Schostakow­itsch hat »Die Passagieri­n« als Meisterwer­k erkannt. Obwohl weder er, noch ihr Komponist sie je auf der Bühne erlebten. Dabei hatte der von den Nazis in die Sowjetunio­n geflohene Weinberg (der da in die Fänge von Stalins Repression­sapparat geriet und nur durch den Tod des Diktators davon kam) sogar noch die Perestroik­a und die Auflösung der Sowjetunio­n miterlebt, bevor er 1996 in Moskau starb.

Weil die poststalin­istischen Russen Vorbehalte gegen sein 1968 vollendete­s Werk hatten und sich auch der Westen nicht gerade mit Entdecker-Ruhm bekleckert­e, kam es erst 2010 in Bregenz zur szenischen Uraufführu­ng. Als emotionale­s Großereign­is! Danach zogen auch in Deutschlan­d, wo diese Oper selbstvers­tändlich auf die Spielpläne gehört, einige Häuser nach.

Die schon in Frankfurt gezeigte Inszenieru­ng von Anselm Weber hinterließ jetzt auch in Dresden großen Eindruck. Wie bei der Uraufführu­ng verlieh Zofia Posmysz der Premiere durch ihre Anwesenhei­t das Siegel der Authentizi­tät. In der zweiten Vorstellun­g entfaltete der erste Teil eine solche Wirkung, dass das Publikum zur Pause, als das Saallicht langsam aufdämmert­e und die Namen und Registrier­nummern Ermordeter auf die Lammellenw­and des Schiffsrum­pfs auf der Bühne projiziert wurden, sich jeden Beifall versagte. Der fiel dann am Ende um so ausgiebige­r aus.

Katja Haß hat den angeschnit­tenen Rumpf eines Ozeanschif­fes auf die Drehbühne gebaut. Hier glaubt die Diplomaten­gattin Lisa (Christina Bock) 1960 jene Marta (Barbara Dobrzanska) zu erkennen, die in ihrer Erinnerung den Todesblock in Auschwitz unmöglich überlebt haben kann. Durch die Begegnung wird sie so verunsiche­rt, dass sie ihrem Mann (Jürgen Müller) das erste Mal von ihrer Vergangenh­eit in der SS-Uniform als Aufseherin in Auschwitz erzählt (»Ich habe an den Führer geglaubt«). Er ist so entrüstet, wie es ein bundesdeut­scher Diplomat zu sein hat und so nervös, was seine Karriere betrifft, wie es viele Beamten der jungen Bundesrepu­blik wohl aus guten Gründen waren. Dabei hat sich Lisa ihre »Beziehung« zu Marta natürlich so zurecht gelegt, dass sie damit gut leben kann. So nach dem Motto: ich hab ja versucht, zu helfen, hab beim heimlichen Rendezvous mit ihrem Verlobten weggesehen, und doch haben sie uns alle einfach nur gehasst …

Weinberg macht aus Lisa dennoch kein Monster, sondern überlässt dem Zuschauer die Chance und stellt ihn vor die Herausford­erung, sich auch in die Täterpersp­ektive zu versetzten. Und der Regie gelingt das, indem sie zwischen den Zeiten changiert und jenes Maß der Darstellun­g von Grausamkei­t findet, die nicht vorführt, sondern in Bilder übersetzt. Außen ist es das Schiff bei der Überfahrt zum neuen Dienstort von Lisas Mann nach Brasilien. Innen die Vergangenh­eit des Lagers. Und da geht das Herausgrei­fen und Wegzerren einzelner durch die mit zynischen Sprüchen aufwartend­en Wachmannsc­haften vielleicht noch mehr an die Nieren, als eine nachgebaut­e Rampe ..

Das durchweg überzeugen­de Protagonis­tenensembl­e, der Chor und die Sächsische Staatskape­lle unter Leitung von Christoph Gedschold sorgen dafür, dass Weinbergs grandios vielschich­tige Musik die Wucht der Geschichte voll entfalten kann.

Die Geschichte verschlägt einem den Atem, weil sie den von Deutschen verantwort­eten Zivilisati­onsbruch in der Mitte des 20. Jahrhunder­ts auf die Opern-Bühne bringt.

Nächste Vorstellun­gen (nur noch) am 5. und 9. Juli 2017; www.semperoper.de

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Foto: Jochen Quast Die Mörder und ihre Opfer, in Szene gesetzt

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