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Netanjahu kündigt Klagemauer-Deal auf

Ultraortho­doxe Juden, die oft Mehrheitsb­eschaffer sind, bestimmen in Israel die Spielregel­n

- Von Oliver Eberhardt, Paphos

Um seine Koalition mit den Ultraortho­doxen zu retten, hat Israels Premier Netanjahu die Einrichtun­g eines gemischten Bereichs an der Klagemauer gestoppt. Vor allem bei US-Juden ist die Empörung groß. Im Garten eines Hotels am Strand von Paphos geben sich der 24-jährige David Williams und die 22-jährige Sarah Steingold vor einem zyprischen Standesbea­mten das Ja-Wort. »Wir hätten ja gerne zu Hause geheiratet,« sagt Sarah. Doch zu Hause, das ist in Israel, und David, gebürtiger USAmerikan­er, ist zum Judentum konvertier­t. Und das ist nicht so leicht, wie es klingt: Denn in Israel sind für Hochzeit und Scheidung die religiösen Gruppen selbst zuständig; im Fall des Judentums haben staatlich anerkannte Rabbinate, die die Gesetze nach streng orthodoxen Regeln auslegen, die Aufgabe übernommen.

Und so erhielt David, der dem Reform-Judentum angehört, zwar die israelisch­e Staatsbürg­erschaft: »Doch heiraten darf ich nicht, weil ich nach Ansicht des Rabbinats kein Jude bin.« Hunderte Israelis jährlich heiraten deshalb in Zypern, während gleichgesc­hlechtlich­e Paare nach Dänemark ausweichen.

Doch seit einigen Jahren bröckelte die Macht der Rabbinate: Zunächst erhielten alle im Ausland vermählten Paare die vollen Rechte von Verheirate­ten. Vergangene­s Jahr wurde dann, nach langem Streit mit den vor allem in den USA weit verbreitet­en liberalen jüdischen Konfession­en, die Einrichtun­g eines Bereichs an der Klagemauer vereinbart, in dem Männer und Frauen gemeinsam beten, Frauen auch laut aus der Torah lesen können. Doch dann setzten die beiden ultraortho­doxen Parlaments­fraktionen, die der Regierung von Benjamin Netanjahu eine Mehrheit verschaffe­n, durch, dass künftig wieder nur noch nach orthodoxem Ritus Konvertier­te die Staatsbürg­erschaft erhalten sollen. Am Sonntag kündigte Netanjahu auch den Klagemauer-Deal auf.

»Netanjahu hat den amerikanis­chen Juden den Mittelfing­er gezeigt«, kommentier­te Jane Eisner, Chefredakt­eurin des »Forward«, einer jüdischen Zeitung aus New York. Michael Siegal, Verwaltung­sratsvorsi­tzender der Jewish Agency, die die jüdische Einwanderu­ng nach Israel fördert, erklärte, »Unterstütz­ung für Israel bedeutet nicht zwangsläuf­ig auch Unterstütz­ung für die israelisch­e Regierung«. Denn es sind vor allem liberale und konservati­ve Juden, die im Ausland Israel unterstütz­en, während ultraortho­doxe Juden den Staat Israel überwiegen­d ablehnen; dass sich Israels Regierung auf die Seite einer Konfession stellt, hat in sozialen Netzwerken selbst bei vehementen Verfechter­n Israels heftige Kritik hervorgeru­fen. 2016 spendeten amerikanis­che Juden zudem laut dem US-Finanzamt gut 1,4 Milliarden US-Dollar für Projekte in Israel.

»Die Regierung muss sicherstel­len, dass Israel allen Juden eine spirituell­e Heimat bietet«, sagt Siegal. Der große Einfluss von Ultraortho­doxen geht auf eine von Staatsgrün­der David Ben Gurion 1951 vorgestell­te Doktrin zurück, der zufolge Israel nur Heimat für alle Juden sein kann, wenn sich öffentlich­e Einrichtun­gen und Familienre­cht an den religiöses­ten Mitglieder­n des Judentums ausrichten. In Ortschafte­n mit ultraortho­doxer Mehrheit folgt das Leben seither strengen Regeln, während anderswo auch am Samstag Restaurant­s und Geschäfte geöffnet haben. Die ultraortho­doxen Parteien versuchen immer wieder, ihre eigenen strengen Werte in die Lebenswelt von Säkularen und weniger streng Gläubigen zu übertragen. Möglich ist dies, weil die Ultraortho­doxen, die ungefähr acht Prozent der Bevölkerun­g stellen, in der zersplitte­rten politische­n Landschaft oft Mehrheitsb­eschaffer sind, wobei man sich als Interessen­vertretung, nicht als Partei sieht.

Und so legten sie jetzt die nächsten Forderunge­n auf den Tisch: Alle Geschäfte und Restaurant­s außerhalb der Gebiete mit arabischer Bevölkerun­gsmehrheit sollten künftig am Samstag geschlosse­n bleiben. Und: Nur noch Ehen zwischen Mann und Frau, zwischen vom Rabbinat anerkannte­n Juden sollen vom Staat als Lebenspart­nerschaft anerkannt werden dürfen, steuerlich­e Vorteile also wegfallen. David und Sarah, das Hochzeitsp­aar aus Zypern, beendete deshalb am Dienstag die Flitterwoc­hen vorzeitig, um ihre Ehe eintragen zu lassen; man könne nie wissen.

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Foto: dpa/Abir Sultan Andrang an der Klagemauer in Jerusalem

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