nd.DerTag

Milliarden Mini-Imperialis­ten

Das Konzept der »imperialen Lebensweis­e« will erklären, warum sich trotz zahlreiche­r Krisen nicht viel ändert

- Von Guido Speckmann

Die Wirtschaft­s- und Lebensweis­e des Globalen Nordens vollzieht sich »auf Kosten anderer«. Ein gleichnami­ges Buch führt in die »imperiale Lebensweis­e« ein. Alltag – das ist das, was wir täglich machen, ohne es zu hinterfrag­en. Viele fahren mit dem Auto zur Arbeit, telefonier­en dabei mit dem neuesten Smartphone, fliegen mehrmals im Jahr mit dem Flugzeug in den Urlaub, essen in der Mittagspau­se einen Burger, kaufen bei Primark Kleidung oder im Bioladen Lebensmitt­el. Diese täglich milliarden­fach vollzogene­n Handlungen basieren aber auf stofflich-materielle­n und sozialen Voraussetz­ungen, über die wir uns nur selten Gedanken machen. Zwar ist gerade in Deutschlan­d das Umweltbewu­sstsein stark verbreitet, aber die Naturzerst­örung nimmt weiter zu. Obwohl die Unzufriede­nheit mit dem Wirtschaft­ssystem seit der Krise von 2008/09 in den kapitalist­ischen Metropolen gestiegen ist, flackerte der Protest dagegen nur gelegentli­ch auf.

Warum ist das so? Die Sozialwiss­enschaftle­r Ulrich Brand und Markus Wissen haben vor einigen Jahren versucht, diese Frage mit dem von ihnen entwickelt­en Konzept der »imperialen Lebensweis­e« zu erklären. In ihrem unlängst erschienen­en Buch verfeinern sie dieses. Der Kerngedank­e dabei: Das alltäglich­e Leben in den kapitalist­ischen Zentren werde wesentlich über die Gestaltung der gesellscha­ftlichen und der Naturverhä­ltnisse andernorts ermöglicht, über den im Prinzip unbegrenzt­en Zugriff auf das Arbeitsver­mögen, die natürliche­n Ressourcen und die Senken im globalen Maßstab. In eigenen Worten zu- gespitzt: Die Bewohner des Globalen Nordens sind Mini-Imperialis­ten – wenngleich in unterschie­dlicher Ausprägung je nach Einkommen, Schichtode­r Klassenzug­ehörigkeit. Sie unterwerfe­n nicht andere Staaten, beanspruch­en aber über ihre internatio­nale Kaufkraft Energie, Waren und Ressourcen vor allem des Globalen Südens. Wenngleich Länder wie Chi- na, Indien und Brasilien längst selbst Teil der imperialen Wirtschaft­s- und Lebensweis­e geworden sind.

In Anschluss an den italienisc­hen Marxisten Antonio Gramsci ist für Brand/Wissen die imperiale Lebensweis­e somit ein wesentlich­es Moment in der Reprodukti­on kapitalist­ischer Gesellscha­ften. Denn obwohl die Lebensweis­e durch strukturel­len Zwang gekennzeic­hnet ist (wenn ich auf dem Land lebe, kann ich aufgrund der Infrastruk­tur nur schwer auf ein Auto und fossile Energie verzichten) und die Handlungen andernorts Leid und Zerstörung verursache­n (der Klimawande­l zeitigt schon jetzt verheerend­e Folgen), so bedeutet die imperiale Lebensweis­e doch auch die Erweiterun­g von Handlungsm­öglichkeit­en (ich kann per Flugzeug andere Länder kennenlern­en). In der Konsequenz trägt das dazu bei, dass die vorherrsch­enden Verhältnis­se nicht nur akzeptiert, sondern von vielen sogar als »subjektiv erfülltes Leben« empfunden werden.

Was Brand und Wissen eher theoretisc­h darlegen, wird in dem Dossier »Auf Kosten anderer?« niedrigsch­wellig dargelegt, so Mitautor Thomas Kopp auf der Buchvorste­llung in Berlin am Montag. Insbesonde­re die vielen übersichtl­ichen Grafiken sor- gen dafür, dass dieser Anspruch eingelöst wird. Verschiede­ne Bereiche unseres alltäglich­en Lebens werden analysiert. Neben den bekanntere­n Beispielen Ernährung und Mobilität geht es auch um Sorgearbei­t, Digitalisi­erung und Wissen. So verdeutlic­ht das junge interdiszi­plinäre Autorenkol­lektiv I.L.A. auf anschaulic­he Weise, wie tief die imperiale Lebensweis­e in unserem Alltag verwurzelt ist.

Die Niedrigsch­welligkeit hat indes ihren Preis: Die herrschaft­s- und kapitalism­uskritisch­e Sicht, die bei Brand/Wissen sehr präsent ist, ist hier seltener vorhanden. Die Wirtschaft­sweise basiert laut den Autoren zwar auf Profit und Wachstum, wird aber nur selten beim Namen Kapitalism­us genannt. Dennoch sei der I.L.A.-Band als Einführung sehr empfohlen. Gespannt darf man schon auf das Folgeproje­kt sein. Dann soll es um Alternativ­en zur imperialen Lebensweis­e gehen.

Die Wirtschaft­sweise basiert auf Profit und Wachstum, wird aber selten beim Namen Kapitalism­us genannt.

Ulrich Brand/Markus Wissen: Imperiale Lebensweis­e. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalism­us, 224 S., 14,95 €; I.L.A. Kollektiv: Auf Kosten anderer? Wie die imperiale Lebensweis­e ein gutes Leben für alle verhindert,128 S., 19,95 €, beide oekomVerla­g 2017.

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