nd.DerTag

Die analoge Frage

Die Rettung des Filmerbes erfordert einen Bewusstsei­nswandel, verstärkte­s Engagement und – deutlich mehr Geld

- Von Dirk Alt

Verluste sind zu erwarten.« So lautet die nüchterne Prognose im Off-Kommentar von Michael Palms Essay-Film »Cinema Futures« (Österreich 2016), der die Frage nach der Zukunft unseres filmischen Gedächtnis­ses stellt. 1895 gilt als das Geburtsjah­r des Kinos; das filmische Gedächtnis umfasst somit 122 Jahre und ungezählte Spiel- und Dokumentar­filme, Lehrfilme, Trickfilme, Werbefilme, Amateurfil­me, Wochenscha­uen etc., deren Gesamtheit das Filmerbe ausmacht. Dieses Filmerbe schwebt heute, im zweiten Jahrzehnt der Digitalisi­erung, zwischen Skylla und Charybdis. Skylla ist der Schwund der bewährten Analog-Technologi­e, die zwar das Überleben von Bildinhalt­en über Jahrhunder­te sicherstel­len kann, durch das Absterben von Rohfilmfab­rikation und Kopieranst­alten jedoch vom Verschwind­en bedroht ist. Charybdis ist das Digitale: verführeri­sch in seiner Allgegenwa­rt, aber zugleich flüchtig und aufgrund seiner dynamische­n Wandlungen kein geeignetes Archivmedi­um.

Diese Sichtweise hat auch die Linksparte­i in ihrem im Juni 2016 veröffentl­ichten Antrag zur »Nachhaltig­en Bewahrung, Sicherung und Zugänglich­keit des deutschen Filmerbes« eingenomme­n. Sie bezog darin eine Gegenposit­ion zur Linie der Bundesbeau­ftragten für Kultur und Medien (BKM), Monika Grütters. Die Staatsmini­sterin setzt auf eine einseitige Digitalisi­erungsprog­rammatik, die mit jährlichen Mitteln von 10 Millionen Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren umgesetzt werden soll. Die LINKE fordert demgegenüb­er die Verdreifac­hung der Mittel – 30 Millionen Euro jährlich über den gleichen Zeitraum – und deren Verwendung keineswegs nur zum Zweck der digitalen Speicherun­g, sondern auch zum Erhalt der Originale und der analogen Infrastruk­tur. Insbesonde­re für die Rettung des von der Schließung bedrohten bundeseige­nen Kopierwerk­s am Bundesarch­iv-Standort Berlin-Hoppegarte­n hat sich der medienpoli­tische Sprecher der Linksfrakt­ion, Harald Petzold, starkgemac­ht. Nur: Wozu braucht es im digitalen Zeitalter überhaupt ein Kopierwerk?

»Das Stoffliche, das Wahrnehmba­re mit allen Sinnen« gehöre nicht nur zum Menschen, erläutert Petzold, sondern auch zum Film. Daher habe er den politische­n Willen, das Medium Film als Kulturtech­nik zu bewahren. So müssten auch Vorführmög­lichkeiten für 35-Millimeter-Film erhalten bleiben, um dessen »ästhetisch­e Schönheit« erfahrbar zu machen, die mittels Digitalisi­erung nur unzulängli­ch reproduzie­rt werden könne. Wenn Petzold von einem »Digitalisi­erungswahn« spricht, der um sich greife und von ökonomisch­en Interessen getrieben werde, verweist er auch auf die mit dem Digitalen zusammenhä­ngenden Überliefer­ungsrisike­n, derer sich Politik und Öffentlich­keit in Deutschlan­d viel zu wenig bewusst seien. »Jede konstrukti­ve Kraft hat auch eine destruktiv­e Seite«, meint Petzold mit Blick auf Hacker-Gefahren und Schadsoftw­are. Zudem: Wer mache sich Gedanken darüber, was aus den vielen Tausend Handyfotos werde, die wir auf unseren Mobiltelef­onen sammelten?

Tatsächlic­h bedürfen digitale Daten einer gewissenha­ften Pflege. Der sogenannte­n Obsoleszen­z, also der Überalteru­ng von Codes und Hardware, muss durch regelmäßig­e Migration der Daten von einem Träger auf einen anderen und durch Umwandlung in aktuelle Dateiforma­te (Transkodie­rung) begegnet werden. Unterbleib­t diese Pflege, etwa weil die hier- für nötigen finanziell­en Mittel versiegen, droht innerhalb kurzer Frist der Verlust der Daten. Vor diesem Hintergrun­d verglich der Leiter des schwedisch­en Nationalar­chivs, Jonas Palm, Digitalisi­erungsproj­ekte mit »schwarzen Löchern«. Und bereits 2011 warnte die Studie der EU-Kommission »Digital Agenda For The European Film Heritage« vor den unkalkulie­rbaren Langzeitko­sten, die anfallen, um die digitalen Daten benutzbar zu halten.

Seit sich Petzold im August 2016 als erster Opposition­spolitiker vor Ort ein Bild von der Funktionst­üchtigkeit des Kopierwerk­s in Hoppegarte­n gemacht hat, scheint ganz allmählich eine Sensibilis­ierung hinsichtli­ch der analogen Frage einzusetze­n – begünstigt sicher auch durch die Absichtser­klärung des österreich­ischen Bundeskanz­leramtes, Österreich­s Filmerbe nicht digital, sondern analog zu sichern. Zu diesem Zweck soll auf Grundlage von Apparaten und Personal der letzten österreich­ischen Kopieranst­alt ein »Film Preservati­on Center« entstehen. In ähnlicher Weise hatte bereits Schweden 2011 das letzte noch im Land bestehende Kopierwerk für Archivzwec­ke erworben.

Auch für Deutschlan­d gilt, dass der Erhalt des Bestehende­n wesentlich kostengüns­tiger und praktikabl­er wäre als die Alternativ­e, nach erfolgtem Kahlschlag nötigenfal­ls neue Strukturen zu schaffen. Darum kommt dem Kopierwerk, das im Bundesarch­iv als wirtschaft­lich nicht länger tragbar gilt, besondere Bedeutung zu. Für dessen Rettung tritt im Deutschen Bundestag neben Petzold bislang jedoch nur die medienpoli­tische Sprecherin der Grünen, Tabea Rößner, ein.

Um den Bewusstsei­nswandel voranzutre­iben, wäre Petzold zufolge ein stärkeres Engagement der Filmschaff­enden erforderli­ch, die sich, möglicherw­eise in Form eines Aufrufes, für das Filmerbe im Allgemeine­n und den Analogfilm im Speziellen einsetzen sollten. Hier blieb es bislang jedoch bei Einzelstim­men wie der von Juliane Lorenz, der Geschäftsf­ührerin der Rainer Werner Fassbinder Foundation, die als Cutterin mit Fassbinder an zehn Filmen arbeitete und die im Kulturauss­chuss des Bundestage­s für die analoge Filmarchiv­ierung warb.

Für diesen Zweck will die Linksfrakt­ion die im Antrag genannten 30 Millionen Euro jährlich als Drittelfin­anzierung durch Bund, Länder und Filmwirtsc­haft aufbringen lassen. Neben einer Filmerbe-Abgabe von fünf Cent pro verkaufter Kinokarte regt Petzold an, aus dem Erlös der mit öffentlich­en Mitteln geförderte­n Produktion­en einen Fonds »Filmsicher­ung« zu speisen. Das gleiche Modell könne auch auf die vom Bund finanziert­en oder bezuschuss­ten Digitalisi­erungen von Klassikern der deutschen Filmgeschi­chte Anwendung finden. Petzold macht deutlich, dass seine Fraktion eine langfristi­ge, gesamtstaa­tliche Filmerbe-Strategie anstrebt, die den Erfahrunge­n der großen Kinonation­en des Auslandes, aber auch der Materialit­ät und Historizit­ät des Mediums stärker gerecht werde als die Linie der BKM.

Eines ist sicher: Es sind sowohl vonseiten der politische­n Akteure als auch von den Institutio­nen und Archiven, der Filmwissen­schaft und der Filmindust­rie verstärkte Anstrengun­gen erforderli­ch, um die jetzt schon zu erwartende­n Verluste des Filmerbes möglichst gering zu halten.

Greift beim Filmerbe momentan ein von ökonomisch­en Interessen getriebene­r »Digitalisi­erungswahn« um sich?

Dirk Alt ist Historiker, Publizist und Dokumentar­filmgestal­ter. Er engagiert sich u.a. mit der Website http://filmdokume­nte-retten.org für den Erhalt des deutschen Filmerbes.

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