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Polens Knoten aus Gestern und Heute

Stephan Fischer über polnisches Gedenken und eine Vergangenh­eit, die immer stärker in die Gegenwart hineinregi­ert – mit ungewisser Zukunft

- Beim »nd«.

Das Verhältnis zwischen Warschau auf der einen sowie Berlin und Brüssel auf der anderen Seite ist derzeit angespannt. Das hat sowohl historisch­e als auch aktuelle politische Gründe, die sich gerade in unguter Art und Weise weiter verknoten.

An jedem 1. August um 17 Uhr steht das Leben in Warschau still. Zu dieser Stunde »W« fiel 1944 das Signal zum Warschauer Aufstand. Der Versuch der Selbstbefr­eiung der Hauptstadt angesichts der nahenden Roten Armee, die dann doch am Ostufer der Weichsel haltmachte, war nach 63 Tagen von deutscher Wehrmacht und SS niedergesc­hlagen worden. Auf unvorstell­bar grausame Weise. Die Deutschen begingen Massenmord­e und machten die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleich.

Polen durchlitt im Zweiten Weltkrieg Unvorstell­bares. Millionen polnische Männer, Frauen und Kinder wurden verschlepp­t, misshandel­t, ermordet. Die deutschen Vernichtun­gslager befanden sich auf dem Gebiet des besetzten Polens, rund drei Millionen Menschen jüdischen Glaubens wurden dort ermordet. Und so ist es nur allzu verständli­ch, wenn sich in Polen Empörung darüber Bahn bricht, wenn in anderen Staaten, vor allem aber in Deutschlan­d, ob aus Gedankenlo­sigkeit oder Unachtsamk­eit, der Warschauer Aufstand ignoriert oder mit dem Ghettoaufs­tand von 1943 verwechsel­t wird – so wie vom damaligen Bundespräs­identen Stephan Fischer ist Redakteur Roman Herzog 1994. Oder schlimmer noch, wenn gar von »polnischen Todeslager­n« die Rede ist. Der Jahrestag wird aber auch von extremen Rechten und Ultranatio­nalisten genutzt, die in den letzten Jahren Symbole der Erinnerung und des Gedenkens immer stärker für sich in Beschlag genommen haben – äußerst erfolgreic­h. So erfolgreic­h, dass beispielsw­eise das katholisch­e Wochenmaga­zin »Tygodnik Powszechny« im letzten August titelte: »Sie folgen uns – Wie Nationalis­ten uns Polen Feiertage, Symbole und Patriotism­us stehlen«. Am 1. August 2017 fand am Abend in Warschau das Europapoka­lspiel zwischen Legia Warschau und dem FK Astana statt. Die ultrarecht­en Heimfans präsentier­ten eine riesige Choreograf­ie über die gesamte Tribüne: Ein kopfloser deutscher Soldat hält einem polnischen Kind eine Pistole an den Kopf. Darunter, in englischer Sprache, der Schriftzug: »Während des Warschauer Aufstands ermordeten die Deutschen 160 000 Menschen. Tausende von ihnen waren Kinder«. Das war, auch mit Hilfe der Fernsehübe­rtragung, an ein internatio­nales Publikum außerhalb des Stadions gerichtet. Einen Tag später gab es einen Überfall 70 Kilometer von Warschau entfernt, auf ein Fußballtea­m aus Israel, bei dem zwei Betreuer der Mannschaft verprügelt wurden. Täter waren nach Angaben des israelisch­en Klubs Legia-Hooligans.

Die polnische PiS-Regierung hat unterdesse­n eine Debatte um deutsche Reparation­szahlungen neu befeuert. Sowohl gegenüber Berlin als auch gegenüber Brüssel fährt sie derzeit außenpolit­isch einen Konfrontat­ionskurs – die Vermutung liegt nahe, dass diese Signale mindestens genauso stark nach innen wirken sollen. Schließlic­h stockt ein Kernstück der PiS-Vorhaben, der Umbau des Justizsyst­ems. Wenn es innenpolit­isch hakt, wird der Fokus nach außen verlagert – mit kleinen und großen Nadelstich­en: Feuerwehre­n aus Brandenbur­g und Berlin wurde eine Absage für ihre schon traditione­lle Mithilfe beim Festival »Haltestell­e Woodstock« bei Kostrzyn erteilt. Gegenüber der EU gibt man sich trotz drohendem Vertragsve­rletzungsv­erfahren wegen der Justiz uneinsicht­ig. Im Biosphären­reservat Bialowieza-Urwald sollen Bäume fallen – auch nach der Anordnung eines sofortigen Abholzungs­stopps durch den Europäisch­en Gerichtsho­f. Die EU scheint immer mehr Gegner, was auch an der Person Donald Tusk liegt. Der EU-Ratspräsid­ent sieht Fragezeich­en über Polens europäisch­er Zukunft. Das sagte er in Warschau – wo er sich als damaliger Ministerpr­äsident einer erneuten Befragung zum Smolensk-Absturz 2010 unterziehe­n musste. Die Vergangenh­eit regiert in Polen immer stärker in die Gegenwart hinein – mit ungewisser Zukunft.

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