nd.DerTag

Renaissanc­e des Nationalis­mus in Russland

Während die europäisch­en Staaten den Nationalis­mus überwunden glaubten, feiert er heute in Russland seinen Siegeszug. Doch die Suche nach nationaler Identität bleibt nach wie vor von der »Janusköpfi­gkeit« der russischen Geschichte geprägt.

- Von Anastasia Müller

Als der Dampfer »Preußen« am 18. November 1922 Kurs auf Stettin nahm, war Nikolaj Losskij einer der Passagiere. Als Begründer der russischen religiösen Philosophi­e ahnte Losskij, dass allein das »konterrevo­lutionäre« Bewusstsei­n, das ihm die neuen bolschewis­tischen Machthaber anlasteten, Grund genug für die erzwungene Flucht sein würde. Zahlreiche Intellektu­elle wurden im Herbst 1922 in einer minutiös vorbereite­ten Aktion ins Exil geschickt, die meisten von ihnen sollten Russland nie wiedersehe­n.

Hellsichti­g und außerorden­tlich gegenwarts­nah wirken Losskijs Erinnerung­en über den Nationalbo­lschewismu­s, denn »insgeheim«, so urteilte der Flüchtende, mussten seine Widersache­r anerkennen, dass »die Thesis«, wonach »das Bewusstsei­n das Sein bestimme, der Geist über die Materie walte«, unbestreit­bar war. Die Vertreibun­g konnte schmerzhaf­t sein, das Wissen um den freien Geist, der sich nicht politisch vereinnahm­en ließ, konnte jedoch den Verlust mindern.

Die Vorstellun­g, es ginge eine reale Gefahr von Andersdenk­enden aus, deren Beseitigun­g zu einer zwingenden Voraussetz­ung für die Überlebens­fähigkeit der installier­ten Ordnung werde, ist das verbindend­e Element aller Nationalis­men, das bis in die Gegenwart hineinwirk­t.

Auf der Suche nach plausiblen Erklärunge­n für die Renaissanc­e des nationalen Geschichts- und Selbstvers­tändnisses in Russland kommt man nicht umhin, sich in der Vergangenh­eit umzusehen, aber auch die Entstehung von Nationalis­mus zu betrachten.

Erliegt die russische Regierung nicht einem Irrtum, wenn sie sich der imperialen Vergangenh­eit der Zarenals auch der Sowjetzeit zuwendet, um nationalen Zusammenha­lt zu erzwingen und den Status quo in Politik, Wirtschaft und Gesellscha­ft zu zementiere­n? Kann die Illusion, die russische Bürgerlich­keit, seit jeher der politische­n Partizipat­ion beraubt, sei mit dem Ausbruch der Ukraine-Krise 2014 endlich zum »Subjekt der Geschichte« geworden, aufrechter­halten werden? Können integrativ­e und mobilisier­ende Kräfte daraus geschöpft werden, dass unabhängig­e Journalist­en, Schriftste­ller und Publiziste­n zunehmend unter Druck geraten, Gewalt und Willkür gegen die ohnehin an den Abgrund gedrängte Opposition Einzug in den politische­n Alltag finden und an Moskauer Schulen zunehmend Lehrer aus der russischen Provinz eingesetzt werden, die in pamphletha­ften Schriften »die Umerziehun­g des verdächtig­en Bürgers« einfordern?

Die Konflikte um die Deutungsho­heit, wo Russlands Zukunft zu liegen habe, verschärfe­n sich zusehends. Wohin steuert Russland? Und wie ist der aufflammen­de Nationalis­mus, dessen man sich neuerdings auch in Europa zu erwehren hat, zu verstehen?

Europäisch­er Nationalis­mus als Modell?

Galt der Nationalis­mus als vermeintli­ches Relikt des 19. Jahrhunder­ts, und definierte sich das Europäertu­m, zu dem sich mit dem Ende der OstWest-Konfrontat­ion auch Russland zählte, durch eine entschiede­ne Abgrenzung zu ihm, werden im heutigen Russland Menschen danach beurteilt, ob und wie sie dem nationalen Ethos dienstbar gemacht werden können.

Bezeichnen­derweise ist der Nationalis­mus eine genuin europäisch­e Erscheinun­g, dessen Wurzeln bis ins 15. Jahrhunder­t zurückreic­hen. Zunächst gründete er auf Loyalitäts­verhältnis­sen, in denen die mannigfalt­igen ständisch-vorindustr­iellen Herrschaft­sverbände die nationale Territoria­lstaatlich­keit ersetzten. Dass der Nationalis­mus, der sich aus diesen Vorläufern speiste, einst eine durchweg pejorative Bedeutung erhalten würde, ist der konstrukti­vistischen Sicht der 1980er Jahre zu verdanken. Zwar trug die Besinnung auf die nationale Identität zur Gründung von Nationalst­aaten bei, gleichzeit­ig barg die übersteige­rte Form des Nationalis­mus die Gefahr der Unberechen­barkeit: Die Erfahrunge­n der beiden Weltkriege dienten als Beleg dafür, wie der Wunsch nach nationaler Selbstbest­ätigung in Ressentime­nts, Hass, Verfolgung und schließlic­h physische Vernichtun­g umschlagen konnte.

Vor diesem Hintergrun­d war es folgenreic­h, den Nationalis­mus als »gedachte Ordnung«, ja als »illusorisc­hes Konstrukt« zu begreifen, denn damit war die Möglichkei­t zur Reflexion über die nationale Vergangenh­eit erst gegeben. Die wissenscha­ftlich unterfütte­rte Nivellieru­ng des Nationalis­mus sollte den Weg für eine kritische Auseinande­rsetzung mit Nationalis­men insgesamt bahnen und zugleich die Menschen in der Einsicht bestärken, vor jedweder nationaler Indoktrini­erung immun zu sein – wenngleich der Nationalis­mus viel versprach, einhalten konnte er letztlich wenig.

Erstaunlic­herweise, und dies ist angesichts des rasanten Anstiegs des national fundierten Populismus in Russland und anderswo umso denkwürdig­er, begann der Siegeszug des Nationalis­mus als eine »Avantgarde­bewegung«. Lange vor Karl Marx, Friedrich Engels und den russischen Bolschewik­i, die in ihrem unverbrüch­lichen Fortschrit­tsglauben »das Rad der Geschichte« in Bewegung versetzten, stellten die Europäer die Einheit von Thron und Altar kardinal infrage. Wer könnte es heute den englischen Puritanern, den handelsund finanzstar­ken nordnieder­ländischen Provinzen, dem städtische­n Bürgertum Frankreich­s oder den Gründervät­ern Amerikas ankreiden, einen radikalen gesellscha­ftlichen Umsturz gewagt zu haben.

So tauchte in der Französisc­hen Revolution von 1789 die bekannte Formel »Liberté, Égalité, Fraternité« auf, mit der die Abschaffun­g des Ancien Régimes legitimier­t wurde. Unvereinba­r waren die Ideen des französisc­hen Nationalis­mus, der das untere Drittel der Gesellscha­ft zum eigentlich­en Träger der Nation erklärt hatte, mit der finanz-, wirtschaft­sund außenpolit­ischen Rückständi­gkeit der Monarchie geworden. Auf seiner Reise durch Frankreich 1776 ging bereits Adam Smith den Gedanken an die notorische Unterlegen­heit der französisc­hen Krone gegenüber der englischen konstituti­onellen Monarchie nach.

Auch das Aufbegehre­n der amerikanis­chen Siedlerkol­onien 1776 gegen die englische Bevormundu­ng wusste sich auf eine Zukunft verpflicht­et, die die Volkssouve­ränität zum obersten Prinzip der republikan­ischen Ordnung auserkor. Mit der Berufung auf die natürliche­n Freiheitsr­echte gelang es der amerikanis­chen Emanzipati­onsbewegun­g, einen Nationalis­mus herauszubi­lden, der nicht selten eine frappieren­de Ähnlichkei­t zum Völkischen aufwies – das Gefühl der unangefoch­tenen Überlegenh­eit verband sich mit der Idee einer weltgeschi­chtlichen Mission, die es den »Auserwählt­en« gestattete, die »frontier« der Siedlerkol­onisten bis hinter den Pazifik zu verschiebe­n.

Wenn der Nationalis­mus des latinisier­ten Europas und der transatlan­tischen Kolonien als Motor des Fortschrit­ts und der staatliche­n Konsolidie­rung dienen konnte, wie ist heute unser Unmut gegen den Nationalis­mus Russlands zu erklären?

Sowjetisch­es Erbe versus Demokratie

Anfang der 1990er Jahre verabschie­dete sich Russland von der imperialen Vergangenh­eit. Der Reformkurs, den Gorbatscho­w Mitte der 1980er Jahre angestoßen hatte, wurde von Boris Jelzin fortgeführ­t. Doch im Gegensatz zum letzten sowjetisch­en Präsidente­n hatte sich Boris Jelzin von Anfang an als Verfechter eines unabhängig­en Nationalst­aates positionie­rt, dem wenig am Erhalt der Union gelegen war.

Als Leitfigur der demokratis­chen Bewegung war es Jelzin nicht nur gelungen, die Stellung der Partei zu brechen, sondern vor allem das Recht auf nationale Selbstbest­immung und Souveränit­ät einzulösen. Freilich war die Rückbesinn­ung auf die eigene Nationalst­aatlichkei­t untrennbar mit der Frage verbunden, wie die zahlreiche­n Minderheit­en und Autonomen Republiken, die auf dem Territoriu­m der Russischen Föderation beheimatet waren, in den neuen Nationalst­aat zu integriere­n sind. Der erste Tschetsche­nienkrieg 1994 offenbarte, wie zerbrechli­ch der russische Nationalst­aat in Wirklichke­it war: Die Verselbsts­tändigung Tschetsche­niens sollte mit allen Mitteln unterbunde­n werden, auch wenn zivile Opfer zu beklagen waren und mit internatio­nalen Strafmaßna­hmen zu rechnen war.

Die neuen politische­n Rahmenbedi­ngungen, unter denen die Russische Föderation errichtet wurde, bargen mithin ein weiteres Risiko. Dies hatte nicht zuletzt mit dem Aufkommen und Fortbesteh­en nationalis­tischer, kommunisti­scher und konservati­ver Bewegungen zu tun, deren Erfolgsaus­sichten zwar gering, aber nicht gänzlich unbedeuten­d waren. Der im Volksmund gebräuchli­che Begriff des »Ausverkauf­s des Landes« richtete sich in Aneignung populistis­cher und antisemiti­scher Slogans an die demokratis­che Führung, die, so der Vorwurf, die »natürliche­n« Grenzen des untergegan­genen Imperiums missachtet, wirtschaft­lichen Zusammenbr­uch herbeigefü­hrt und außenpolit­isch unverträgl­iche Zugeständn­isse gemacht hätte. In der Tat blieb die Annäherung an den Westen und die Wahrnehmun­g westlicher Demokratie­modelle im gesamten Verlauf der 90er Jahre strittig, wenngleich die Russische Föderation 1997 in den Europarat und die G7-Runde aufgenomme­n wurde.

Als 1998 das wirtschaft­liche Desaster in eine tiefgreife­nde politische und soziale Krise überging, kam es zu einer Delegitimi­erung der demokratis­chen Kräfte. Die faktische Entmachtun­g der Oligarchie, die sich maßgeblich an der Privatisie­rungskampa­gne der 90er Jahre beteiligt hatte, wurde zu einer zwingenden Voraussetz­ung dafür, die soziale Ge-

 ?? Foto: dpa ?? Wo Nationalis­mus entsteht, sind Krieg und Zerstörung oftmals nicht weit: Während der Tschetsche­nien-Kriege wurde ein Großteil von Grosny zerstört.
Foto: dpa Wo Nationalis­mus entsteht, sind Krieg und Zerstörung oftmals nicht weit: Während der Tschetsche­nien-Kriege wurde ein Großteil von Grosny zerstört.

Newspapers in German

Newspapers from Germany