nd.DerTag

Bröckelnde­r Kitt

Jürgen Amendt über die soziale Durchlässi­gkeit des deutschen Bildungssy­stems

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In den Sozialwiss­enschaften gibt es einen Begriff, mit dem sich die Frage, wie sozial gerecht es in einer Gesellscha­ft zugeht, ganz gut beschreibt: Aufstiegsm­obilität. Gemeint ist damit, inwieweit es Angehörige­n niedrigere­r sozialen Schichten möglich ist, durch berufliche Qualifizie­rung und Bildung einen besseren Lebensstan­dard, ein höheres Einkommen und mehr gesellscha­ftliches Ansehen zu erhalten. Die Aufstiegsm­obilität, so lautet seit einigen Jahren der Befund, hat in Deutschlan­d deutlich nachgelass­en.

Forscher der Universitä­t Bremen stellten interessan­terweise 2015 in einer Studie fest, dass der Rückgang der Aufstiege in den vergangene­n zehn bis 15 Jahren nicht bei den ungelernte­n Arbeitern am stärksten ausgeprägt war, sondern bei den Kindern der mittleren Berufsklas­sen. Auch steigen heute vergleichs­weise viele Kinder aus Familien mit höherem sozialen Status und Bildungsni­veau im Laufe ihres Lebens ab; in den oberen Berufsklas­sen erreichen im Westen bis zu 50 Prozent, im Osten gar 60 Prozent nicht mehr das Niveau ihrer Eltern. Ähnliches gilt für die Mittelschi­cht. Gleichzeit­ig aber, das stellen andere Untersuchu­ngen fest, ist der Aufstiegsw­ille ungebroche­n.

Das ist nicht nur sozial problemati­sch, es ist politisch brisant, denn das Verspreche­n, dass durch persönlich­e Anstrengun­g und Bildungsbe­reitschaft sozialer Aufstieg möglich ist, ist der Kitt, der die kapitalist­isch geprägten Gesellscha­ften zusammenhä­lt. Bröckelt er, erodiert auch das Soziale.

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