Abschied vom Klotz
Nach über 100 Jahren wird 2018 das Kilogramm, heute noch ein Metallzylinder, auf eine Naturkonstante bezogen.
Anfang Juli entschied sich die Zukunft unserer Maßeinheiten. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten die wissenschaftlichen Arbeiten zur exakten Bestimmung des Planckschen Wirkungsquantums bei anerkannten Fachzeitschriften angenommen sein. Was das mit der Zukunft der Maßeinheiten zu tun hat? Dazu muss man wohl etwas weiter ausholen: Das Plancksche Wirkungsquantum ist eine Naturkonstante, deren Wert derzeit mit 6,626 070 040·10− (kg·m²)/s angegeben wird. Wenn man also die Werte für das Wirkungsquantum, sowie für Meter und Sekunde einsetzt, bekommt man eine Definition des Kilogramms, die ganz ohne den derzeitigen körperlichen Maßstab auskommt.
Anders als das Kilogramm sind Meter und Sekunde bereits anhand von Naturkonstanten definiert: ein Meter als die Strecke, die das Licht im Vakuum während des 299 792 458-ten Teils einer Sekunde zurücklegt; eine Sekunde wiederum als 9 192 631 770-fache Periodendauer der Strahlung, die Atome des Cäsium-Isotops 133Cs beim Übergang zwischen zwei Energieniveaus abgeben.
Für die Bestimmung des Wirkungsquantums hatte das für die internationale Festlegung der Maßeinheiten zuständige Internationale Komitee für Maß und Gewicht (Comité international des poids et mesures – CIPM) die Messlatte hoch gehängt: Drei unabhängige Messungen des Planckschen Wirkungsquantums müssen auf 5·10- 8 (50 Milliardstel) übereinstimmen und mindestens eine der Messungen muss sogar auf 2·10- 8 (20 Milliardstel) genau sein. Laut Jens Simon, Pressesprecher der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB), sind von Teams unter anderem aus den USA, Kanada und Deutschland solche Messungen termingerecht publiziert worden.
Die Neudefinition war nicht nur deshalb auf die Tagesordnung des CIPM gekommen, weil die Wissenschaftler gern Naturkonstanten zur Grundlage der Maßeinheiten machen wollen. Ein nicht minder wichtiger praktischer Grund ist, dass das seit 1889 in Sèvres bei Paris gelagerte Urkilogramm aus bislang ungeklärten Gründen Masse verliert. So wog das Original bei der ersten Kontrolle nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1946 durchschnittlich 30 Mikrogramm weniger als einige Kopien des Urkilogramms. Anfang der 1990er Jahre waren es bereits 50 Mikrogramm, das Gewicht eines Fliegenflügels. Das klingt wenig, ist aber in manchen modernen Technologien schon erheblich. Zumal auch weitere Maßeinheiten vom Kilogramm abhängen.
Auch deswegen beschloss die Generalkonferenz für Maß und Gewicht 2011, ein neues Massenormal einzuführen. Wie man dahin kommt, war zu Anfang noch umstritten. Wie PTBSprecher Simon erläutert, gab es zwei verschiedene Fraktionen. Eine gewissermaßen mechanisch-chemische Fraktion, die das Kilogramm beispielsweise aus der Masse eines Elementarteilchens ableitet und eine »elektrische«, die sich auf das weniger anschauliche Plancksche Wirkungsquantum orientiert. Der Vorteil dieses Wegs besteht laut dem PTBWissenschaftler Horst Bettin darin, dass das Wirkungsquantum mit mehreren extrem genau messbaren elektrischen Effekten zusammenhängt, dem Quanten-Hall-Effekt und dem Josephson-Effekt.
Folgerichtig nutzen mehrere Forscherteams zur Neubestimmung des Planckschen Wirkungsquantums ein elektromagnetisches System, die sogenannte Watt-Waage. Bei der von dem 2016 verstorbenen Briten Bryan Kibble entwickelten Waage dient die Kraft eines Elektromagneten gewissermaßen als Gegengewicht zu einer Masse auf der anderen Waagschale. Wenn dort eine Masse von genau einem Kilogramm liegt, lässt sich aus den quantenmechanischen Realisierungen für Spannung und elektrischen Widerstand auf der anderen Waagschale das Plancksche Wirkungsquantum ermitteln.
Die Konstruktion einer solchen Waage für die geforderte Genauigkeit ist allerdings ausgesprochen knifflig. So sind die beiden Watt-Waagen der US-Standardisierungsbehörde NIST in Gaithersburg (Bundesstaat Maryland) aus unmagnetischen Materialien aufgebaut, die Kupferschichten auf den Wänden schirmen elektrische Felder ab. Wegen der Empfindlichkeit dürfte schon ein in der Nähe fahrender Schwerlaster stören.
Wie schwierig der Aufbau einer solchen Waage ist, zeigt schon, dass die Watt-Waage des Schweizer Eidgenössischen Instituts für Metrologie ihre Ergebnisse nicht bis zum Stichtag 1. Juli liefern konnte.
Die Wissenschaftler der PTB in Braunschweig setzten für die Bestimmung des Planckschen Wirkungs- quantums auf einen anderen Weg. Sie nehmen dabei den Umweg über die Masse von Atomen des Siliziumisotops 28Si. Warum Silizium? Der Halbleiter ist dank der Mikroelektronik gut untersucht, man beherrscht die Herstellung von großen Siliziumkristallen. Der Vorteil eines Siliziumkristalls: Mit Hilfe von Röntgenstrahlen lässt sich der Abstand der gleichmäßig verteilten Atome exakt messen, sodass die genaue Zahl der Atome pro Kubikzentimeter bekannt ist. Eine zusätzliche Schwierigkeit war allerdings das Material. Denn das in der Elektronik verwendete natürliche Silizium ist ein Gemisch aus drei Isotopen. Da diese jeweils eine verschiedene Zahl von Neutronen im Atomkern haben, unterscheidet sich auch ihre Masse. Deshalb begann man bereits vor 20 Jahren mit der Anreicherung von 28Si, wie Bettin dem Magazin »Spektrum der Wissenschaft« berichtete.
Vor etwa neun Jahren bekamen die PTB-Forscher die ersten exakt in Kugelform geschliffenen Objekte aus hochreinem Silizium-28. Diese Kugel wird nach allen Regeln der Kunst vermessen: ihre genaue Gestalt, ihre Oberflächenbeschaffenheit, ihre »inneren Werte« und auch ihre Masse. Und aus all diesen Messwerten ergibt sich schließlich die sogenannte Avogadro-Konstante (das ist die Zahl der Atome bzw. Moleküle, die in einem Mol eines Stoffes enthalten sind). Mit dieser wiederum lässt sich das Plancksche Wirkungsquantum errechnen.
Bei seinem nächsten Treffen im Oktober wird das Komitee für Maß und Gewicht die vorliegenden Veröffentlichungen prüfen und entscheiden, ob die Messungen für eine Neudefinition ausreichen oder ob noch weitere Messungen nötig sind. Wenn alles planmäßig verläuft, werden dann im Herbst 2018 auf der Generalkonferenz für Maß und Gewichte nicht nur das Kilogramm, sondern auch das Ampere und das Kelvin neu definiert. Letztere werden dann mithilfe der Elementarladung des Elektrons bzw. der Boltzmann-Konstante bestimmt.
Bleibt die Frage, was sich durch die neue Definition des Kilogramms im Alltag ändert. Eigentlich nichts. Der Wert des Kilogramms bleibt im Grund gleich. Für das Eichen von Waagen und Gewichtsstücken allerdings dürfte sich letztlich einiges ändern. Denn der Maßstab ist dann eben ein neuer – Watt-Waage oder eben die Siliziumkugel der PTB. Für PTB-Sprecher Simon hat die Silizium-Kugel trotz ihres mit ca. einer Million Euro recht beachtlichen Preises einen enormen praktischen Vorteil. Da das Material sehr robust ist, könnte man es problemlos in einem stabilen Transportbehälter als Paket um die ganze Welt schicken. Nationale Eichbehörden könnten die Kugel anstelle der wesentlich anfälligeren alten Massenormale nach Pariser Vorbild benutzen.
Allerdings setzt auch die PTB beim praktischen Einsatz nicht nur auf die Siliziumkugel. Gemeinsam mit der TU Ilmenau entwickelt das PTB-Team von Christian Rothleitner eine WattWaage für den Laboralltag. Da auch sie mit Magnetkraft als »Gegengewicht« arbeitet, bietet sie, anders als Laborwaagen mit Gewichtsstücken, einen kontinuierlichen Messbereich. Der im Juni vorgestellte Prototyp arbeitet nur im Bereich von einem Milligramm bis 100 Gramm, doch der geplante Nachfolger soll von einem Milligramm bis 1000 Gramm reichen. Für diesen Messbereich liegt bereits der Preis eines kompletten Satzes kalibrierter Gewichtsstücke im fünfstelligen Bereich.