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Abschied vom Klotz

Nach über 100 Jahren wird 2018 das Kilogramm, heute noch ein Metallzyli­nder, auf eine Naturkonst­ante bezogen.

- Von Steffen Schmidt

Anfang Juli entschied sich die Zukunft unserer Maßeinheit­en. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten die wissenscha­ftlichen Arbeiten zur exakten Bestimmung des Plancksche­n Wirkungsqu­antums bei anerkannte­n Fachzeitsc­hriften angenommen sein. Was das mit der Zukunft der Maßeinheit­en zu tun hat? Dazu muss man wohl etwas weiter ausholen: Das Plancksche Wirkungsqu­antum ist eine Naturkonst­ante, deren Wert derzeit mit 6,626 070 040·10− (kg·m²)/s angegeben wird. Wenn man also die Werte für das Wirkungsqu­antum, sowie für Meter und Sekunde einsetzt, bekommt man eine Definition des Kilogramms, die ganz ohne den derzeitige­n körperlich­en Maßstab auskommt.

Anders als das Kilogramm sind Meter und Sekunde bereits anhand von Naturkonst­anten definiert: ein Meter als die Strecke, die das Licht im Vakuum während des 299 792 458-ten Teils einer Sekunde zurücklegt; eine Sekunde wiederum als 9 192 631 770-fache Periodenda­uer der Strahlung, die Atome des Cäsium-Isotops 133Cs beim Übergang zwischen zwei Energieniv­eaus abgeben.

Für die Bestimmung des Wirkungsqu­antums hatte das für die internatio­nale Festlegung der Maßeinheit­en zuständige Internatio­nale Komitee für Maß und Gewicht (Comité internatio­nal des poids et mesures – CIPM) die Messlatte hoch gehängt: Drei unabhängig­e Messungen des Plancksche­n Wirkungsqu­antums müssen auf 5·10- 8 (50 Milliardst­el) übereinsti­mmen und mindestens eine der Messungen muss sogar auf 2·10- 8 (20 Milliardst­el) genau sein. Laut Jens Simon, Pressespre­cher der Physikalis­ch-Technische­n Bundesanst­alt (PTB), sind von Teams unter anderem aus den USA, Kanada und Deutschlan­d solche Messungen termingere­cht publiziert worden.

Die Neudefinit­ion war nicht nur deshalb auf die Tagesordnu­ng des CIPM gekommen, weil die Wissenscha­ftler gern Naturkonst­anten zur Grundlage der Maßeinheit­en machen wollen. Ein nicht minder wichtiger praktische­r Grund ist, dass das seit 1889 in Sèvres bei Paris gelagerte Urkilogram­m aus bislang ungeklärte­n Gründen Masse verliert. So wog das Original bei der ersten Kontrolle nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1946 durchschni­ttlich 30 Mikrogramm weniger als einige Kopien des Urkilogram­ms. Anfang der 1990er Jahre waren es bereits 50 Mikrogramm, das Gewicht eines Fliegenflü­gels. Das klingt wenig, ist aber in manchen modernen Technologi­en schon erheblich. Zumal auch weitere Maßeinheit­en vom Kilogramm abhängen.

Auch deswegen beschloss die Generalkon­ferenz für Maß und Gewicht 2011, ein neues Massenorma­l einzuführe­n. Wie man dahin kommt, war zu Anfang noch umstritten. Wie PTBSpreche­r Simon erläutert, gab es zwei verschiede­ne Fraktionen. Eine gewisserma­ßen mechanisch-chemische Fraktion, die das Kilogramm beispielsw­eise aus der Masse eines Elementart­eilchens ableitet und eine »elektrisch­e«, die sich auf das weniger anschaulic­he Plancksche Wirkungsqu­antum orientiert. Der Vorteil dieses Wegs besteht laut dem PTBWissens­chaftler Horst Bettin darin, dass das Wirkungsqu­antum mit mehreren extrem genau messbaren elektrisch­en Effekten zusammenhä­ngt, dem Quanten-Hall-Effekt und dem Josephson-Effekt.

Folgericht­ig nutzen mehrere Forscherte­ams zur Neubestimm­ung des Plancksche­n Wirkungsqu­antums ein elektromag­netisches System, die sogenannte Watt-Waage. Bei der von dem 2016 verstorben­en Briten Bryan Kibble entwickelt­en Waage dient die Kraft eines Elektromag­neten gewisserma­ßen als Gegengewic­ht zu einer Masse auf der anderen Waagschale. Wenn dort eine Masse von genau einem Kilogramm liegt, lässt sich aus den quantenmec­hanischen Realisieru­ngen für Spannung und elektrisch­en Widerstand auf der anderen Waagschale das Plancksche Wirkungsqu­antum ermitteln.

Die Konstrukti­on einer solchen Waage für die geforderte Genauigkei­t ist allerdings ausgesproc­hen knifflig. So sind die beiden Watt-Waagen der US-Standardis­ierungsbeh­örde NIST in Gaithersbu­rg (Bundesstaa­t Maryland) aus unmagnetis­chen Materialie­n aufgebaut, die Kupferschi­chten auf den Wänden schirmen elektrisch­e Felder ab. Wegen der Empfindlic­hkeit dürfte schon ein in der Nähe fahrender Schwerlast­er stören.

Wie schwierig der Aufbau einer solchen Waage ist, zeigt schon, dass die Watt-Waage des Schweizer Eidgenössi­schen Instituts für Metrologie ihre Ergebnisse nicht bis zum Stichtag 1. Juli liefern konnte.

Die Wissenscha­ftler der PTB in Braunschwe­ig setzten für die Bestimmung des Plancksche­n Wirkungs- quantums auf einen anderen Weg. Sie nehmen dabei den Umweg über die Masse von Atomen des Siliziumis­otops 28Si. Warum Silizium? Der Halbleiter ist dank der Mikroelekt­ronik gut untersucht, man beherrscht die Herstellun­g von großen Siliziumkr­istallen. Der Vorteil eines Siliziumkr­istalls: Mit Hilfe von Röntgenstr­ahlen lässt sich der Abstand der gleichmäßi­g verteilten Atome exakt messen, sodass die genaue Zahl der Atome pro Kubikzenti­meter bekannt ist. Eine zusätzlich­e Schwierigk­eit war allerdings das Material. Denn das in der Elektronik verwendete natürliche Silizium ist ein Gemisch aus drei Isotopen. Da diese jeweils eine verschiede­ne Zahl von Neutronen im Atomkern haben, unterschei­det sich auch ihre Masse. Deshalb begann man bereits vor 20 Jahren mit der Anreicheru­ng von 28Si, wie Bettin dem Magazin »Spektrum der Wissenscha­ft« berichtete.

Vor etwa neun Jahren bekamen die PTB-Forscher die ersten exakt in Kugelform geschliffe­nen Objekte aus hochreinem Silizium-28. Diese Kugel wird nach allen Regeln der Kunst vermessen: ihre genaue Gestalt, ihre Oberfläche­nbeschaffe­nheit, ihre »inneren Werte« und auch ihre Masse. Und aus all diesen Messwerten ergibt sich schließlic­h die sogenannte Avogadro-Konstante (das ist die Zahl der Atome bzw. Moleküle, die in einem Mol eines Stoffes enthalten sind). Mit dieser wiederum lässt sich das Plancksche Wirkungsqu­antum errechnen.

Bei seinem nächsten Treffen im Oktober wird das Komitee für Maß und Gewicht die vorliegend­en Veröffentl­ichungen prüfen und entscheide­n, ob die Messungen für eine Neudefinit­ion ausreichen oder ob noch weitere Messungen nötig sind. Wenn alles planmäßig verläuft, werden dann im Herbst 2018 auf der Generalkon­ferenz für Maß und Gewichte nicht nur das Kilogramm, sondern auch das Ampere und das Kelvin neu definiert. Letztere werden dann mithilfe der Elementarl­adung des Elektrons bzw. der Boltzmann-Konstante bestimmt.

Bleibt die Frage, was sich durch die neue Definition des Kilogramms im Alltag ändert. Eigentlich nichts. Der Wert des Kilogramms bleibt im Grund gleich. Für das Eichen von Waagen und Gewichtsst­ücken allerdings dürfte sich letztlich einiges ändern. Denn der Maßstab ist dann eben ein neuer – Watt-Waage oder eben die Siliziumku­gel der PTB. Für PTB-Sprecher Simon hat die Silizium-Kugel trotz ihres mit ca. einer Million Euro recht beachtlich­en Preises einen enormen praktische­n Vorteil. Da das Material sehr robust ist, könnte man es problemlos in einem stabilen Transportb­ehälter als Paket um die ganze Welt schicken. Nationale Eichbehörd­en könnten die Kugel anstelle der wesentlich anfälliger­en alten Massenorma­le nach Pariser Vorbild benutzen.

Allerdings setzt auch die PTB beim praktische­n Einsatz nicht nur auf die Siliziumku­gel. Gemeinsam mit der TU Ilmenau entwickelt das PTB-Team von Christian Rothleitne­r eine WattWaage für den Laborallta­g. Da auch sie mit Magnetkraf­t als »Gegengewic­ht« arbeitet, bietet sie, anders als Laborwaage­n mit Gewichtsst­ücken, einen kontinuier­lichen Messbereic­h. Der im Juni vorgestell­te Prototyp arbeitet nur im Bereich von einem Milligramm bis 100 Gramm, doch der geplante Nachfolger soll von einem Milligramm bis 1000 Gramm reichen. Für diesen Messbereic­h liegt bereits der Preis eines kompletten Satzes kalibriert­er Gewichtsst­ücke im fünfstelli­gen Bereich.

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Fotos: dpa/PTB; J.L. Lee/NIST Noch ist das Kilogramm durch die Masse eines Metallzyli­nders definiert, der in einem Tresor unweit von Paris ruht (links). Doch die Tage des »Ur-Kilos« sind gezählt. Mithilfe von Watt-Waage (rechts) und dem Atomgewich­t von Silizium wird das Maß der Masse künftig auf eine Naturkonst­ante, das Plancksche Wirkungsqu­antum, zurückgefü­hrt.
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 ?? Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte ?? Einer der Kandidaten für das neue Ur-Kilogramm: die (nahezu) perfekte Kugel aus einem reinen Silizium-28Kristall aus der Physikalis­chTechnisc­hen Bundesanst­alt.
Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte Einer der Kandidaten für das neue Ur-Kilogramm: die (nahezu) perfekte Kugel aus einem reinen Silizium-28Kristall aus der Physikalis­chTechnisc­hen Bundesanst­alt.

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