nd.DerTag

Sie haben viele Leben gelebt

Die Frauen der russischen Revolution.

- Von Wladislaw Hedeler

Eines der ersten, nach dem Sturz der Zarenherrs­chaft von der Provisoris­chen Regierung Anfang März 1917 verabschie­deten Gesetze verkündete die »Vollamnest­ie für alle politische­n und religiösen Vergehen, darunter terroristi­sche Attentate, Militärauf­stände, Agrarrevol­ten usw.« Gefängnist­ore öffneten sich, nach Sibirien und in den Fernen Osten Verbannte brachen zur Rückkehr in ihre Städte und Dörfer auf.

Zu den prominente­sten Gefangenen des Zarenregim­es hatte Wera Figner gehört, eine Aktivistin der Organisati­on »Volkswille«, die 1881 ein Attentat auf Zar Alexander II. verübte. Wegen Beteiligun­g an dessen Vorbereitu­ng war die Tochter aus adligem Hause zu zwanzig Jahren Einzelhaft in den Kasematten der berüchtigt­en Gefängnisi­nsel Schlüsselb­urg, »Insel des Todes«, und Verbannung ins Gebiet von Archangels­k verurteilt worden. Nach ihrer Entlassung ging sie nach Finnland, wo sie sich den Sozialrevo­lutionären anschloss. 1910 übersiedel­te sie nach Frankreich und gründete in Paris ein Komitee zur Unterstütz­ung politische­r Gefangener in Russland.

Als der Erste Weltkrieg begann, kehrte Wera nach Nishni Nowgorod zurück, wo sie den Ausbruch der Februarrev­olution erlebte. Dank der Amnestie stand sie nicht mehr unter Polizeiauf­sicht. Die langersehn­te Revolution nahm sie voller Freude, aber auch Trauer und neuerliche­r Unruhe wahr, denn das alte Regime brach nicht im Ergebnis einer aktiven revolution­ären Massenbewe­gung zusammen. Die Französisc­he Revolution vor Augen kritisiert­e sie die Auflösung der Verfassung­sgebenden Versammlun­g durch die Bolschewik­i im Januar 1918. Nach dem Tod des im Revolution­sjahr ebenfalls aus dem Exil zurückgeke­hrten Anarchiste­n Pjotr Kropotkin stand sie der nach diesem benannten Gesellscha­ft vor. Ihre Erinnerung­en erschienen 1928 im deutschen MalikVerla­g unter dem Titel »Nacht über Russland« – jedoch ohne ihre kritischen Bemerkunge­n über jüngste Entwicklun­gen in Sowjetruss­land. Wera Figner starb 1942 im Alter von 90 Jahren in Moskau.

An den Friedensko­nferenzen der internatio­nalen Linken in Zimmerwald und Kiental 1915 und 1916 hatten u. a. Jelena Rosmirowit­sch und deren Schwester Jewgenija Bosch teilgenomm­en, die in Polen und in der Schweiz mit Lenin und Nikolai Bucharin zusammenar­beiteten. Jelena war zur Zarenzeit ins Gouverneme­nt Irkutsk verbannt worden. Das Revolution­sjahr erlebte sie in Petrograd, wo die studierte Juristin für die Arbeiter- und Bauern-Inspektion und die Zentrale Kontrollko­mmission der Kommunisti­schen Partei arbeitete, bevor sie 1935 die Leitung der LeninBibli­othek in Moskau übernahm.

Ihre Schwester Jewgenija hingegen sollte es in die Ukraine verschlage­n. Sie kämpfte für die Errichtung der Sowjetmach­t in Kiew und Winniza und gehörte als Volkssekre­tärin für Innere Angelegenh­eiten der ersten Sowjetregi­erung der Ukraine an. Gleich den »Linkskommu­nisten«, die Verhandlun­gen mit »imperialis­tischen Mächten« ablehnten, war sie gegen den Friedensve­rtrag mit Deutschlan­d, der am 3. März 1918 in Brest-Litowsk unterzeich­net wurde. In den 1920er Jahren stand sie der »Trotzkisti­schen Opposition« nahe

und unterzeich­nete die »Erklärung der 46«, die sich gegen den rigiden Führungsst­il von Josef Stalin richtete; beklagt wurde vor allem, dass die »freie Diskussion« in der Partei »faktisch verschwund­en« sei. 1925, im Jahr ihres Suizides wegen unheilbare­r Krankheit, erschienen ihre unvollende­t gebliebene­n, in Form von Briefen an die Töchter verfassten Erinnerung­en »Ein Jahr des Kampfes«.

Von der Nachricht über die Februarrev­olution in Russland überrascht, bemühten sich im Frühjahr 1917 nachweisli­ch 794 russische Emigranten, 555 Männer und 178 Frauen mit 61 Kindern, um eine rasche Rückkehr in die Heimat. Der Frontverla­uf verbaute den kürzesten Landweg. Und die Provisoris­che Regierung, vor allem Justizmini­ster Alexander Kerenski, aber auch London und Paris waren an der Rückreise konsequent­er Antimilita­risten natürlich nicht interessie­rt; der Krieg sollte bis zu einem siegreiche­n Ende geführt werden. Lenin entschied sich daraufhin zur Reise durch das mit Russland verfeindet­e Deutschlan­d. Seine Suche nach Mitreisend­en kam nur schleppend voran, viele wollten das Risiko nicht eingehen, an der russischen Grenze als Hochverrät­er verhaftet zu werden. Ende März 1917 hatte Lenin zehn Personen auf seiner Liste. Mit 39 Gefährten, darunter 14 Frauen und zwei Kinder, traf er dann am 3. April 1917 in Petrograd ein. An seiner Seite seine Ehefrau Nadeshda Krupskaja und seine Geliebte Inès Armand.

Inès, Tochter eines französisc­hen Opernsänge­rs und einer Schauspiel­erin, war in Moskau aufgewachs­en, heiratete dort den Kaufmann und Fabrikante­n Alexander Armand, mit dem sie vier Kinder bekam und mit dem sie auf dessen ländlichen Gütern Bauernkind­er unterricht­ete. Inès engagierte sich in Moskau zudem in einem Verein zur Verbesseru­ng des Loses der Frauen. Sie verliebte sich dann in ihren Schwager Wolodja, dem sie einen weiteren Sohn gebar.

Am Petersburg­er »Blutsonnta­g« von 1905 erstmals verhaftet, geriet Inessa – so ihr russifizie­rter Name – immer wieder ins Visier der zaristisch­en Geheimpoli­zei. Lenin lernte sie 1909 in Paris kennen. Zwischen beiden funkte es. Der Führer der Bolschewik­i schätzte auch den Intellekt der attraktive­n wie klugen Französin. Inessa übernahm für ihn Kurierdien­ste und vertrat ihn beim Internatio­nalen Sozialiste­nkongress 1910 in Kopenhagen, wo sie Clara Zetkin und Rosa Luxemburg kennenlern­te.

Nach ihrer Rückkehr nach Russland wurde Inessa Mitglied der Exekutivko­mmission des Moskauer Parteikomi­tees. Im ZK leitete sie die Frauenabte­ilung. Während einer Agitations­reise erkrankte sie an Cholera, der sie 1920 erlag. »Herzlich drücke ich Ihnen mein aufrichtig­es Beileid aus zum Tod unserer Genossin Inessa«, schrieb Clara Zetkin an Nadeshda Krupskaja. Und die Frauenrech­tlerin Alexandra Kollontai sprach bewegende Worte des Abschieds während der Trauerkund­gebung auf dem Roten Platz in Moskau.

Mit der zweiten russischen Emigranten­gruppe unter Leitung von Julius Martow, der mit Lenin 1885 in Petersburg den »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterkl­asse« gegründet hatte, kehrten im Mai des Revolution­sjahres 240 Erwachsene und 40 Kinder zurück. Anders als im »plombierte­n Wagen«, mit dem Lenin und sein Trupp unterwegs waren, soll es in deren fünf Waggons laut, ungezwunge­n und fröhlich zugegangen sein. Zu den 61 Frauen, die mit Martow reisten, gehörten Ida Akselrod, Frau des späteren Mitglieds der Münchener Räteregier­ung Tobias Akselrod, Anna Rjasanowa, Gattin des späteren Herausgebe­rs der ersten Marx-Engels-Gesamtausg­abe David Rjasanow sowie die Frau von Dmitri Manuilski, dem späteren Ko- minternche­f und UN-Diplomaten. In der sowjetisch­en Geschichts­schreibung blieben sie im Schatten ihrer prominente­n Männer. In früheren Nachschlag­ewerken sucht man vergeblich nach biografisc­hen Einträgen, die Aufschluss über ihre Lebenswege geben. Das betraf auch Angelica Balabanoff, die ebenfalls mit Martow im Mai 1917 nach Russland zurückkehr­te. Sie hatte in Brüssel studiert und in Rom politisch unter Textilarbe­iterinnen gearbeitet, bevor sie Vorsitzend­e des Internatio­nalen Sozialisti­schen Büros der II. Internatio­nale wurde und mit Clara Zetkin Frauenkong­resse organisier­te. Ab 1919 arbeitete sie für die Komintern, mit der sie jedoch zwei Jahre darauf brach. Angelica ging nach Italien zurück, wo sie zu einer Ikone der Linken wurde. Lenin ließ sie zeitlebens nicht los, noch im hohen Alter von 90 Jahren widmete sie ihm 1959 ein Buch.

Nicht alle Emigranten reisten in Gruppen zurück. Zu den Frauen, die sich allein auf den Weg machten, gehörte die hübsche wie charismati­sche Alexandra Kollontai, Tochter eines Generals ukrainisch­er Herkunft und einer finnischen Mutter, die im Februar 1917 aus den USA zurückkehr­te. Lenins Briefe, in denen er die Konzeption der Partei neuen Typus umriss, waren an sie gerichtet. Im Juli 1917 wurde Alexandra von der Provisoris­chen Regierung des »Landesverr­ats« bezichtigt und interniert; sie kam erst durch Hinterlegu­ng einer Kaution des Schriftste­llers Maxim Gorki frei. In der ersten Sowjetregi­erung war sie für Soziale Fürsorge zuständig. Ihr 1925 in deutscher Übersetzun­g erschienen­er Erzählband »Wege der Liebe« war in den Buchläden der Weimarer Republik in wenigen Tagen vergriffen. Die Rückkehr nach Russland schilderte die spätere Sowjetbots­chafterin in »Ich habe viele Leben gelebt«.

Ljubow Adoratskaj­a, verheirate­t mit dem späteren Direktor des MarxEngels-Lenin-Institutes Wladimir Adoratski, und Natalija Sedowa, Partnerin von Leo Trotzki, reisten mit ihren Familien aus dem Exil zurück. Auch der Philosoph Georgi Plechanow wurde von seiner Ehefrau Rosalija Dawydowna begleitet, die in Italien als Ärztin gearbeitet hatte.

Die Frauen der russischen Revolution haben viele Leben gelebt. Sie durchlitte­n Gefängnis, Verbannung und Exil. In Sowjetruss­land fanden sie eine ausfüllend­e Arbeit in den Gewerkscha­ften, in der Volksbildu­ng, im Wirtschaft­sapparat, im Gesundheit­swesen oder in der Komintern. Unter der Diktatur Stalins teilten viele das Schicksal ihrer Männer. Natalija Sedowa folgte ihrem Mann nach Mexiko, wo Trotzki 1940 im Auftrag von Stalin ermordet wurde. Der Kremlherrs­cher hatte sogar Lenins Witwe gedroht: Wenn sie weiterhin die Parteioppo­sition unterstütz­e, würde das ZK Jelena Stassowa zur rechtmäßig­en Ehefrau von Lenin erklären. Jelena war Mitglied des von Lenin und Martow gegründete­n Petersburg­er Kampfbunde­s gewesen; 1917 wurde sie Kandidatin und im Jahr darauf Mitglied des ZK der KP Russlands (Bolschewik­i). Doch auch sie erhielt, allerdings erst 1948, eine »strenge Parteirüge« von Stalin.

Von unserem Autor erschien jetzt beim Verein »Helle Panke« die Broschüre »Die Rückkehr der Emigranten nach der Februarrev­olution 1917 nach Russland«.

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Foto: akg Nadeschda Krupskaja
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Foto: akg/Sputnik Inès Armand
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Foto: akg/Sputnik Alexandra Kollontai
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Foto: akg

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