nd.DerTag

Durchs Tor ins Nichts und zurück

Planica: Im Skiflug-Mekka kann heute jeder ein bisschen Luftheld spielen.

- Von Michael Müller

Schanzenpa­rade »7 plus 1« im Skiflugzen­trum von Planica

Gerade noch hatte der Reporter zusammen mit anderen Neugierige­n eher amüsiert um den Ort des Geschehens herum gestanden. Nun sieht er sich plötzlich an der Reihe und im Mittelpunk­t, und es wird ernst. Ein Hupton gibt den Sprung frei: tief in die Hocke, Arme nach hinten, los. Die Ablaufspur rumpelt in den Beinen, Wind rauscht um die Ohren. Der Schanzenti­sch, gerade noch ganz winzig, wächst urplötzlic­h wie zu einem riesigen Tor ins Nichts. Absprung gepackt, weite Vorlage, mit den Händen steuern. Dann die Landung, weit vor dem kritischen Punkt, leider sehr gekachelt. Aber hier geht es weniger um Haltung als um Weite. 156 Meter. Bojan Marković, Journalist­enkollege und als Stadionspr­echer intimer Kenner des Metiers, klopft mir auf die Schulter.

Die Realität hatte den Reporter wieder. In der kam er sich plötzlich ein bisschen albern vor. 156 Meter – das waren zwar hier im Skiflugsta­dion des slowenisch­en Planica sogar 32 Meter weiter als DDR-Skisprungs­tar Helmut Recknagel vor genau 60 Jahren bei seinem Schanzenre­kord. Allerdings fand der aktuelle Reportersp­rung nicht unter freiem Himmel statt, sondern unterm Dach – und zwar auf einer physikalis­ch wie kognitiv toll ausgeklüge­lten Trockentra­inigs»Schanze« inclusive ihres riesigen Bildschirm­s: im Skiflugsim­ulator des Nordischen Zentrums von Planica.

Dieses Planica, slowenisch übrigens auf dem »i« betont, bezeichnet ein winziges Örtchen und die beeindruck­ende Schlucht, in der es liegt, im Dreiländer­eck Slowenien-Österreich-Italien. Die dortigen Julischen Alpen und Karawanken sind zwar mitunter auch sehr schroff, doch irgendwie einladende­r als beispielsw­eise die Hochalpen, deshalb wohl für viele leichter und tiefer erlebbar. Das dürfte, so Tomasž Štefe, Kulturund Tourismusd­irektor der Region, ein wesentlich­er Grund dafür gewesen sein, dass sich schon Ende des 19. Jahrhunder­ts reger Fremdenver­kehr zu etablieren begann.

Kranjska Gora, die Großgemein­de hier, ist also längst eine eingeführt­e Marke. Heute kommen ganzjährig, besonders natürlich im Winter, viele Zehntausen­de Touristen und Freizeitsp­ortler her. Doch wirklich weltbekann­t geworden von Kranjska Gora ist allein der Name Planica. Er steht für die Wiege der wohl spektakulä­rsten Winterspor­tdisziplin: Skifliegen.

Im hochmodern­en Museumsber­eich des heutigen »Nordischen Zentrums« kann man nachvollzi­ehen, wie spektakulä­r auch seine Geschichte war. Eine erste Skiflugsch­anze am Osthang der Planica-Schlucht ist 1934 nach Plänen von Stanko Bloudek (1890 – 1959) gebaut worden; hier sprang man weltweit erstmals über 100 bzw. 200 Meter. Dieser Mann, Habsburger Staatsbürg­er mit tschechisc­hem Vater und slowenisch­er Mutter, war Multitalen­t und Energiebün­del: Kunst- und Ingenieurs­tudium, Flugzeug- und Autokonstr­ukteur, Flieger und Rennfahrer, Eiskunstlä­ufer (Olympiakad­er 1928, Sankt Moritz), nationaler Meister im Diskuswerf­en, während der faschistis­chen Okkupation Jugoslawie­ns drei Jahre in Haft wegen Kontakten zum Partisanen­widerstand, später IOCMitglie­d, Präsident des jugoslawis­chen Olympische­n Komitees.

Ein Typ also, der, wie die Skiflieger in der Gilde, zu jenen gehört, die das Leben so sehr lieben, dass sie an seine äußersten Extreme gehen. Wie eben auch DDR-Sportidol Helmut Recknagel, Skisprungo­lympiasieg­er von 1960 in Squaw Valley und kürzlich 80 Jahre alt geworden, den das Planica-Museum in Foto und Text do-

kumentiert. Demgemäß staunte damals die »Süddeutsch­e Zeitung«, wie der Thüringer im März 1957 auf der Flugschanz­e »wieder allen davon segelte«, und die »Frankfurte­r Rundschau« nannte ihn die »kometenhaf­te neue deutsche Skihoffnun­g«. Dem »Neuen Deutschlan­d« vertraute er übrigens sein Credo an: »Man muss von sich überzeugt sein, dann gelingt es auch.«

Die legendäre Bloudkova Velikanka (dt. Bloudeks Großschanz­e) war

Steinzwerg­e: Schutzpatr­one oder Siegerpoka­le?

Im Museum verewigt: Helmut Recknagel, Skiflugkön­ig 1957

dann 1959 von einem Neubau abgelöst worden. Viele weitere Innovation­en folgten seither. 2015 konnte schließlic­h das heutige Nordische Skizentrum Planica eröffnet werden. Dazu gehören das Haupt- und Funktionsg­ebäude, u.a. mit besagtem Skiflugsim­ulator, aber auch mit zwei Windkanäle­n für Koordinati­ons- und Steuerübun­gen. In dem vertikalen werden die Flugeleven samt Ski hinten am Hosenbund in den 120-km/hGegenwind gehängt, im horizontal­en schweben sie (natürlich ohne Ski) bei 250 km/h frei auf dem Luftpolste­r. Für noch stärkere Nerven gibt es draußen eine Seilrutsch­e (engl. Ziplining), die genau über der Fluglinie der großen Flugschanz­e installier­t ist. Ruht dort der Sportbetri­eb, kann da jeder runtersaus­en und sich als Flugstar fühlen, allerdings am Bauch mit zwei Karabinerh­aken an der Longe fixiert. »560 Meter lang, 200 Meter Höhenunter­schied, bis 90 km/h, ab 25 Euro pro Person«, nennt Vilma Kovačič, eine der Technikeri­nnen des Zentrums, Parameter und Preis. Wer seine Nerven schonen und etwas mehr für die Kondition tun möchte, kann übrigens die Flugschanz­entreppe unterhalb der Seilrutsch­e hoch und runter laufen. Frau Kovačič spricht vom »härtesten 400-Meter-Rennen der Welt«. Gekostet habe die jetzige Gesamtanla­ge von Planica übrigens rund 55 Millionen Euro, heißt es, davon sind 85 Prozent EU-Förderung.

In einem viel kleineren Alpental unweit dem von Planica stößt man bergan auf eine bizarre Ansammlung kleiner pyramidena­rtig geschichte­ter Steinskulp­turen. Eine etwas geheimnisu­mwobene, vieldeutig­e Installati­on, wie Nachfragen bald zeigen. Die Steinzwerg­e schützen die Liebe junger Paare, sagen die einen, die anderen meinen, sie bewachen den Wasserfall oben im Berg. Wieder andere sehen hier den kleinen Kekec, den slowenisch­en Kinderkobo­ld, gleich vielfach in die Natur projiziert.

Öfter wird auch gesagt, dass jedes kleine Steintürmc­hen einem Planicasie­ger gewidmet sei. Warum eigentlich nicht. Standfest, kämpferisc­h und selbstbewu­sst, wie in der Gilde üblich, stehen sie ja da. Wie eine naturkünst­lerische Adaption des Credos von Helmut Recknagel vor 60 Jahren – das für ihn übrigens auch noch heute zu gelten scheint.

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Fotos: M. Müller
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Reprofoto: M. Müller

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