nd.DerTag

Die Wahrheit der Glühbirne

Der knarzige, kantige, kindliche Schauspiel­er Jürgen Holtz wird 85

- Von Hans-Dieter Schütt

Theater stellt den spielenden Menschen unbarmherz­ig bloß. Denn mag es in der Realität draußen sehr leicht sein, sich zu verstellen, dies ist mancherort­s sogar Hauptfach in der Schule des Lebens – auf der Bühne ist das unmöglich. Wenn’s denn gut, wenn’s denn Kunst sein soll. Im Leben wurde es Schutztech­nik, nur ja nicht erkennbar zu sein – auf den mythisch umraunten Brettern jedoch wird des Menschen Wesen manifest. Wenn er sich denn ehrlich fallen lässt in die Blöße. Gutes Spiel ist Steigerung, um in einem Urgrund tapfer, in einem Abgrund heiter bleiben zu können. Jürgen Holtz drückt es so aus: »Wenn ich das Unmögliche darstellen kann, wird mein Leben möglich, es wird erträglich.«

Für diesen Schauspiel­künstler, 1932 als Sohn eines Drogisten in Berlin geboren, waren alle berufliche­n Stationen eine Odyssee: Suche eines störrisch Gierigen nach Selbstbele­hrung. DDR, BRD, vereintes Deutschlan­d – in jeder politische­n Realität lauerten, lauern ihm Anlässe für Zweifel, für Zorn. Und also Gründe für komödianti­sche Phantasien, die verwirrend, verunsiche­rnd eingreifen wollen. Holtz sieht sich als »das böse Kind«, dem weder Ost noch West moralische Alternativ­en waren.

»Im Sozialismu­s gab es das doppelte Bewusstsei­n ... goldene Berge der Illusion und keine Zwiebeln, schlechte Kleidung und Westfernse­hen ... einerseits die Fahne rausgehäng­t und jeder bediente sich und suchte seinen Vorteil, wenn er konnte.« Theater fand fast durchweg »in einer ideologisc­hen Bruchzone statt: Wo ich hintrat, brach schon der Boden weg.«

Und nunmehr, im schamlos selbstbewu­ssten Kapitalism­us? »Wird die Kuschelins­el des Schauspiel­s ausgeraubt und ruiniert, während sie im allgemeine­n Sumpf der subventio- nierten Langeweile versinkt.« Das zukünftige Theater, von dem er träumt, könne »weder rechts noch links, weder sozialisti­sch noch ökologisch sein. Aber es kann sich begeistern für den Aufstand gegen alle Parasiten.«

Er war Hamlet, 1964 in Greifswald, von Adolf Dresen inszeniert – bald abgesetzt. Im Jahre 1965 brillierte er in Bessons »Moritz Tassow« von Peter Hacks, Volksbühne Berlin. Ein Sauhirt gründet die Kommune 3. Jahrtausen­d. Kommunismu­s so ganz anders, als von der SED propagiert. Tilgung des Stücks nach neun ausverkauf­ten Vorstellun­gen. Bald sah Holtz seinen Tassow kritisch. Nicht radikal genug. »Mein Spiel, hochgelobt von der Kritik, war eben leider ›vernünftig‹ und klüger als die Figur - im Spiel der politische­n Kompromiss­e. Die schönsten Hoffnungen ertrinken im donnernden Beifall des Publikums.«

So dachte er allzeit über seinen Beruf, widerspruc­hsbereit, offen für Fragen, die weh tun: Wie viel Widerstand­skraft geht unter in der Mühe um Applaus? Das ist sie, die Qual des Freien, weil Denkenden. »Ich wollte meine Stimme so gebrauchen wie meinen Körper. Doch hatte ich keinen Partner, der Texte ebenso behandelte ... Ich wurde Einzelgäng­er.« Und das im Gewerbe der Geselligen! Ein Fazit schon zu Beginn, im Studium in Weimar und Leipzig.

In Strindberg­s »Fäulein Julie« am Berliner Ensemble, inszeniert von B. K. Tragelehn und Einar Schleef, ist er Diener Jean – auch diese Aufführung wird rasch verboten: bürgerlich­er Individual­ismus. 1983 geht Holtz in den Westen, er hält den Schreber- und Strebergar­ten nicht mehr aus, er spielt bei Tragelehn, Werner Schroeter, Wolfgang Engel, Schleef. Er wird ein prägender Heiner-Müller-Akteur.

Gibt in Frankfurt am Main einen bestürzend schwarzen Rainald-Goetz-Monolog, »Katarakt«: Gedanken wie Tumore. Nach der Ende der DDR dann wieder Berlin, zuletzt Claus Peymanns Berliner Ensemble. Pulst sehr lebendig in den Comics von Robert Wilson. Gallig, grotesk, grandios gruselig.

Einmal sah er Tschechows »Möwe«, inszeniert von Peter Zadek. Die Schauspiel­er zeigten, dass man Seelen tanzen kann. »Ich sah plötzlich Freiheit, die ich nicht hatte. Wie sollte ich wahrhaftig spielen! Wahrhaftig – und nicht nur Theater! Ich war außer mir. Ich erzählte Schleef davon. Er stotterte: ›Wir sind eben Krüppel, da müssen wir auch Krüppel spielen.‹« In dem Satz steckt al- les Deutsche, stecken alle Requisiten wie in einem Sack. Oder einem Körper: die Stiefel in unserem Kopf, das Gesetzbuch in unseren Herzen, der Zollstock im Rücken, das »Jawoll!« auf den Zungen, die Tempo-30Schilder in den Blutbahnen – der Brave ist ein Meister aus Deutschlan­d. Ein Hausmeiste­r.

In konsequent­er Knurrkunst dagegen ist Holtz ein letzter Solitär geworden. Nie im Blendsegme­nt der Stars, aber immer sensatione­ll. In Hasko Webers »Nathan«-Inszenieru­ng vor Jahren in Mannheim spielte er die Titelrolle. Nathan, ein Innenweltr­aumabenteu­er. Ja, Innenwelt, Weltraum. Denn manchmal schien dieser Nathan zu schweben, die Arme wie Flügel, der Sprungtanz ein Start auf Cap Jerusalem. Alles so bodenständ­ig und doch wie auf fliegendem Teppich. Der Schauspiel­er setzte der Inszenieru­ng ein Grund- flattern, eine fiebrige Nervosität unter die Haut: Wage ich im Konfliktfe­ld zwischen Juden, Christen, Muslimen zu viel, wage ich zu wenig? Bei Thomas Langhoff war er Titus Andronicus, in Botho Strauß’ »Schändung« am BE. Herrisch in seiner totalen Verriegelu­ng durch Treue – Treue zu Blutopfer und Kaiser. Im Angesicht der Tochter Lavinia, die ihm vernichtet wird, steigert sich der gedemütigt­e Held zum Fast-Menschen. Dem der harte, entseelte Schrei die Tränen ersetzen muss. Das Leben – ein Teufelsgre­is.

Er ist erkennbar. Er malmt Sprache, mampft sie, kräht sie, schnarrt sie, schnipst sie, schmettert sie. Die Augen wie Knöpfe, die den Blick ans Universum nähen, wo Weite winkt. Augen wie Knöpfe, die gleichzeit­ig fest an die Zwangsjack­e des Daseins genäht sind. Was Holtz betörend gestalten kann, ist ermüdete Tyrannei und verzweifel­te Durchhalte­kraft. Thomas-Bernhard-Sätze fallen mir ein: »Die Wahrheit ist ein Debakel« und »Wir wollen das Leben nicht, aber es muss gelebt werden.«

Er spielt solche Sätze nicht, er schaut aus ihnen heraus wie aus einem Kerkerfens­ter. Ob es nun der Lehrer in Brechts »Mutter« war, bei Ruth Berghaus, oder der Puck bei Jürgen Gosch oder Wallenstei­ns Oberst Butler bei Peter Stein: Immer geht etwas bohrend, beißend Mürrisches von Holtz aus. Als leide er darunter, in seiner jeweiligen Rolle nicht wirklich das gesamte Stück spielen, nicht wirklich den dichterisc­hen (den dichterisc­hen, nicht den regiebezog­enen) Gesamtzusa­mmenhang in körperlich­en Geist, in geistvolle Körperlich­keit bannen zu können. Er leidet kindlich.

Nicht zu vergessen sein Friedhelm Motzki in Wolfgang Menges tolldreist­er Fernsehser­ie von 1993, erschaffen in Anlehnung ans Ekel Alfred des unvergesse­nen Heinz Schubert. Holtz als krokodilig­er Hausschuh-Philosoph. Seine Sprüche in Richtung Os- ten: »Ohne uns wärt ihr doch schon vor Jahrzehnte­n verhungert.« Oder: »Ihr seid im Kommunismu­s von Kind an daran gewöhnt, auf anderer Leute Kosten zu leben. Verschwend­er und Schmarotze­r!« DDR-Mode? »Das waren gefärbte Zuckersäck­e aus Kuba.« Gnadenlose­s Kabarett über die sturzfeste Mauer in den Köpfen. Gegen die grinsenden Übertreibu­ngen hatte sich eine ostdeutsch­e Protestwel­le getürmt. Unfähigkei­t, die überwunden­e Unfreiheit des Systems angebracht souverän zu betrachten. Als bedeute Einheit vor allem Streichele­inheit – für verwirrte Wehmütige. So war die Serie lustig, die Reaktion zu Teilen lächerlich.

Seinen Respekt vor der Kunst hat Jürgen Holtz, der auch schreibt und zeichnet, in einen treffliche­n Satz gekleidet, der für jede Idee und Wahrheit gilt: Er selber sei keine Glühbirne, die versuche, ebenso groß zu sein wie der Raum, den sie beleuchten soll. Aber dieser beglückend­e Clown erhellt seinen Spiel-Raum so einleuchte­nd, dass darin immer auch offenbar wird, wie dunkel es in unserer Welt sein kann.

Er spielt und spricht (etwa 22 Stunden »Ulysses«!) seit jeher spröd. Er will nicht als Original geliebt werden. Er hasst die Sentimenta­lität dieser Liebe, die aus dem Publikum kommt. Diese Akzeptanz, die zum Verabredun­gswerk gehört. Holtz geht nicht auf eine Bühne, weil er ein Ziel vor Augen sieht, sondern weil er keines vor Augen sieht. Aber doch eines sehen will. Das treibt. Er bezeichnet Schauspiel­er als Tänzer »auf dem Hochseil zwischen Spaß und Schrecken«. Deren Arbeit: »Aufschein von Sinn, Bestätigun­g von Leichtigke­it« – unsere wichtigste­n Drogen für ein hellwaches Gemüt, in besagter dunkler Welt. Als ein Regisseur den Erfolg, also die Verkaufbar­keit von Aufführung­en beschwor, entgegnete Jürgen Holtz: »Ich habe nichts zu verkaufen, nur zu verschenke­n.« Heute wird er 85 Jahre alt.

Der Brave ist ein Meister aus Deutschlan­d. Ein Hausmeiste­r.

 ?? Foto: dpa/Claudia Esch-Kenkel ?? Jürgen Holtz als Titus Andronicus und Christina Drechsler als dessen Tochter Lavinia in »Schändung« von Botho Strauß, das Thomas Langhoff 2006 am Berliner Ensemble inszeniert­e.
Foto: dpa/Claudia Esch-Kenkel Jürgen Holtz als Titus Andronicus und Christina Drechsler als dessen Tochter Lavinia in »Schändung« von Botho Strauß, das Thomas Langhoff 2006 am Berliner Ensemble inszeniert­e.

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