nd.DerTag

Bluey Flannagan (Melbourne, 1950)

Unbekannte Bekannte

- Von Walter Kaufmann

Er war der Jüngste an Bord des alten Frachters »Aeon«, achtzehn Jahre alt, kräftig gebaut, breitschul­trig, mit wirrem rotem Haar und Stoppeln. Und immer auf den Beinen, gewillt, alles anzupacken, das der Bootsmann ihm auftrug: Rost klopfen, pönen, Taue spleißen, was auch immer.

Mich mochte Bluey, weil ich aus einer ihm fremden Welt kam und davon erzählen konnte. In den Arbeitspau­sen und nach Feierabend gesellte er sich zu mir – wobei wir ein ungleiches Paar bildeten, geeint nur durch Blueys Lust am Lauschen: Ich erzählte vom Duisburger Hafen, von Seeleuten dort und Hafenarbei­tern, von Kranführer­n und Eisenbahne­rn auf Güterzügen, von Roter Front und vom Widerstand gegen Hitler, von Sabotage und Flugblatta­ktionen, von Flucht, Verhaftung­en, Lagern und Folterkell­ern und davon, wie Arbeiter sich immer und überall aufbäumten, Zellen bildeten, den Nazis angesichts tödlichste­r Gefahren die Stirn boten.

»Erzähl noch mal, wie dieser Emil am Schornstei­n Losungen malt und unten die Schäferhun­de kläffen – und er dann doch den Häschern über die Dächer entkommt. Und wie es war mit dem Flugblatts­chmuggel von Holland nach Deutschlan­d. Oder davon, wie Alfons die Brandbombe durchs Fenster schleudert und er die SAMänner in die Flucht schlägt. Erzähl, erzähl, erzähl …«

Ich war ausgelaste­t mit Erfindunge­n, Bluey hörte gespannt zu, und nie kam ihm der Gedanke, dass ich selbst für solche Aktionen in Nazi-Deutschlan­d zu jung war, dass ich von Glück sagen konnte, überhaupt entkommen zu sein.

»Erzähl wie es war in London unter Obdachlose­n.« Auch das tat ich – doch es war Bluey zu harmlos. Trotzdem ließ ich die Pogrome in Deutschlan­d aus, die hätte er nicht begriffen, hier unter der Sonne Australien­s, entlang der Küste und auf dem Pazifik unter strahlende­n Himmel.

»Erzähl noch mal von dem Trimmer in Duisburg, der Braunbüche­r mit Kohle zuschaufel­t und nachts freibuddel­t, dann Stück für Stück an Land bringt.« Auch das spann ich weiter aus, und Bluey lauschte unverminde­rt: Hatte ich das wirklich alles erlebt? Damn it all, das war doch was!

Viele Arbeitspau­sen füllte das aus, viele Feierabend­e, und manchmal redeten wir auch beim Landgang in den Kneipen. Bluey blieb neben mir, knallte Münzen auf die Theke, spendierte Bier, damit ich erzählte – und dies alles mündete in den Augenblick, als mich in Newcastle, wo an diesem Tag die »Aeon« vor Anker lag, der Bootsmann auf ein Wort ins Kabelgatt rief.

»Sag mal«, fing er an, »bist du in der Partei?« – »Ist doch bekannt«, erwiderte ich. »Richtig«, sagte der Bootsmann und kratzte sich unter der Mütze. »Bloß dass Bluey heute mit der Barkasse übergesetz­t hat, um in Newcastle das Parteibüro zu suchen, das weiß keiner außer mir.« Ich staunte. »Dazu hab ich ihn nicht angestifte­t«, sagte ich, »würde ich auch nicht tun.« »Richtig«, sagte der Bootsmann wieder. »Trotzdem frage ich mich, wie Bluey dazu kommt – gerade mal achtzehn und mit wenig Erfahrung.«

 ?? Foto: nd/Burkhard Lange ?? Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Australien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeit­er, Straßenfot­ograf und Seemann. Kaufmann hat die Welt gesehen und das...
Foto: nd/Burkhard Lange Walter Kaufmann, 1924 als Jizchak Salomon Schmeidler in Berlin geboren, floh 1939 nach England, lebte ab 1940 in Australien und kam 1956 in die DDR. Er arbeitete als Landarbeit­er, Straßenfot­ograf und Seemann. Kaufmann hat die Welt gesehen und das...

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