Nach Krieg um die Stadt Krieg um die Köpfe
Die syrische Millionenstadt Aleppo muss wiederaufgebaut werden, und die Regierung drückt aufs Tempo
Nachdem der Krieg dort beendet ist, kehren die Menschen allmählich nach Aleppo, Syriens zweitgrößte Stadt, zurück. Sie sind optimistisch, aber das allein genügt nicht. Am Morgen ertönen die Gebetsrufe, und während man im Bett liegt, an die Decke starrt, während durch das geöffnete Fenster die ansteigende Sommerhitze des Tages, der Geruch von frisch gebackenem Brot, von Holzkohle dringt und von der Straße die ersten Geräusche des Straßenverkehrs, das erste Rufen von Händlern und Lieferanten ertönt, klingt und riecht dieser Ort wie jede andere Stadt im arabischen Nahen Osten: Wie Kairo, wie Amman. Wie Aleppo, zu alten Zeiten.
»Manche Dinge ändern sich nie«, sagt der Arzt Dr. Riad Jamil einige Stunden später. »Unsere Lebensart ist geblieben – und die Liebe zu dieser Stadt.« 21 Jahre ist es seit dem ersten Treffen in London her, damals im Studium; 20 Jahre, seit Jamil zu einer Reise nach Aleppo überredete; wenn es eine Stadt im Nahen Osten gebe, die man gesehen haben müsse, dann sei es diese Stadt, und er hatte recht: Muslime und Christen, die bis zu 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten, lebten Seite an Seite, und nebeneinander existierten auch das Aleppo der Traditionellen, der Religiösen, das Aleppo des Ausgehens und Feierns.
»Tja«, sagt Jamil und wendet sich ab, mit ernstem Blick, vor ihm der Suq, das Marktviertel, im Herzen der Altstadt: Gesprengte Gebäude, Häuser mit klaffenden Löchern in den Wänden haben auf dem Weg dorthin das Bild bestimmt. Die Dächer und Mauern des Suq mit seinen verwinkelten, engen Gassen, in denen man sich früher mit den Dingen des Alltags eindeckte, sehen aus, als wären sie in sich zusammengesackt. Zwischen den Trümmern des Weltkulturerbes spielen Kinder, wühlen Erwachsene nach Brauchbarem; ein lebensgefährliches Unterfangen: Zuerst war 2012 nach Kämpfen zwischen der syrischen Armee und der qaida-nahen Jabhat al-Nusra, die sich mittlerweile Jabhat Fatah al-Scham nennt, Feuer ausgebrochen und hatte den Basar stark beschädigt.
Später zerstörte dann die »Islamische Front«, ein Zusammenschluss aus sieben sunnitischen Gruppen, gezielt Gebäude in der Altstadt, kamen Luftangriffe und Artilleriebeschuss der syrischen, der russischen Armee. 120 000 Menschen lebten in dem 3,5 Quadratkilometer großen Areal zu Beginn des Krieges nach Angaben der syrischen Regierung; 2,1 Millionen Einwohner hatte Aleppo insgesamt.
Jamil ist in der Stadt groß geworden, hat an der Universität studiert, dann den Zuschlag einer britischen Universität für die Facharztausbildung erhalten. Als in Syrien der Krieg ausbrach, war er zum erfolgreichen Chirurgen an einem Londoner Krankenhaus geworden; als dann auch seine Heimatstadt von der Gewalt erfasst wurde, kehrte er zurück, immer wieder betonend, er stehe weder auf dieser noch auf jener Seite, er sei ausschließlich Mediziner: »Hier sind im Laufe der Jahre so viele Gruppen mit Waffen durchgezogen, die mal Regierung, mal Opposition waren, mal dies, mal das wollten, dass ich irgendwann den Überblick verloren habe. Ich stehe seit fünf Jahren still und frage mich, was verdammt noch mal passiert ist.«
Man muss sich Aleppo so vorstellen: Im Herzen liegt die Altstadt, die von der überwiegend seit den 50er Jahren gebauten Neustadt umgeben wird, deren wie Bauklötze nebeneinandergestellte Betonblöcke durch dicke Verkehrsadern getrennt werden. Mit dem Krieg kam dann eine weitere Aufteilung dazu, jene in Ostund Westteil: Der Westen wurde von syrischen Regierungstruppen gehalten; im Osten übernahmen bewaffnete Gruppen die Kontrolle, die in den westlichen Medien meist unter dem Oberbegriff »Rebellen« zusammengefasst wurden.
Es ist kaum möglich, jemanden zu finden, der dazu bereit ist, über das Leben in der Stadt zu dieser Zeit zu sprechen – weil ständig mindestens ein Mitarbeiter des Informationsmi- nisteriums zuhört. Aber auch, weil die meisten derjenigen, die einst eine der Oppositionsgruppen unterstützten, vor der Eroberung des Ostteils durch die syrische Armee Ende vergangenen Jahres diesen verlassen haben. »Die Angst saß sehr tief«, sagt eine Person, die die Freie Syrische Armee unterstützt, mittlerweile in einem anderen Teil des Landes lebt. »Meine Angehörigen, meine Freunde und ich, wir haben nie gekämpft, aber wir haben auf Veränderung gehofft. Und als die Armee dann die Oberhand gewann, gab es viele Gerüchte, dass Unterstützer der Opposition erschossen oder inhaftiert werden. Niemand wusste, was stimmt, niemand wollte es herausfinden. Es herrschte Panik.«
Doch viele mehr wollen einfach nur vergessen, weitermachen. »Wir hier in Aleppo klagen, wir schreien und leben weiter«, sagt Sayed, ein junger Mann, während er an einem Straßenstand in der Neustadt Früchte in eine Tüte packt, dem Händler einige Geldscheine in die Hand drückt.
Überall in dieser Stadt gibt es diese Stände, reich mit Waren bestückt, aufgebaut vor den Gerippen und Stummeln von Gebäuden, vor Trümmerbergen. Mindestens ein Drittel der Stadt sei komplett zerstört, heißt es in einem Bericht der Vereinten Nationen, und man kann in der Tat stundenlang, viele Kilometer durch eine Stadt laufen, die an das Berlin im Jahr 1945 erinnert.
Eine Stadt, in der die Menschen weiter leben und in die Menschen zurückkehren: Auf der Fahrt nach Aleppo waren immer wieder Busse, be- setzt bis auf den letzten Platz, zu sehen; mindestens 200 000 Flüchtlinge, sagen die Vereinten Nationen, seien nun aus anderen Landesteilen zurückgekehrt, zu früh, sagt man dort, denn es mangele vor allem an sicherem Wohnraum.
Denn schon jetzt leben viele Menschen in einsturzgefährdeten Gebäuden, spielen Kinder in Straßenzügen, in denen noch Spreng- und Schadstoffe verborgen liegen, sich Trümmerstücke lösen können. »Auch heute noch werden täglich Dutzende in die Krankenhäuser gebracht, die aussehen, als wäre der Krieg hier noch im vollen Gange«, sagt Jamil. Aber immerhin habe man jetzt wieder Verbandstoffe und Narkosemittel, fügt er mit einem Unterton hinzu, der Sarkasmus und Resignation verrät.
Seitdem die syrische Regierung im Dezember wieder die Kontrolle über die Stadt übernahm, setzt man alle Hebel in Bewegung, um in Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes, so viel Normalität zu erzeugen, wie es nur geht, und man redet gerne darüber, wie viel man ausgibt, tut und macht.
Journalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Geschäftsleute hatten am Abend zuvor bei Kerzenlicht in der Hotellobby zusammengesessen, während die Stadt von einem fast undurchdringbaren Dunkel umschlungen schien, als einer der Mitarbeiter des Informationsministeriums in den Raum stürmte, sich voller Euphorie auf den Stuhl gegenüber stürzte und erklärte: »Ab morgen gibt es doppelt so lange Strom für alle, vier Stunden, und nächste Woche dann: Strom den ganzen Tag.« Dann setzte er zu einer langen Erläuterung darüber an, welche Leistungen notwendig sind, um das weitgehend zerstörte Stromnetz der Stadt zu reparieren. Und auch Nahrungsmittel, »Obst, Gemüse, Milch, ganz wichtig für die Kinder«, so die Leute vom Informationsministerium, medizinische Güter gibt es in ausreichender Zahl in der Stadt, zum ersten Mal seit Jahren.
Nach dem Krieg um die Stadt hat die Schlacht um die Köpfe begonnen: Dort, wo man die Kontrolle hat, in Damaskus, und nun auch in Aleppo, stellt man die Normalität zur Schau, präsentiert die eigene Fähigkeit, auch viele Menschen zu versorgen, Zerstörtes wieder aufzubauen.
Wenn man mit Regierungsvertretern, mit Mitarbeitern der örtlichen Stadtverwaltung spricht, dann wird deutlich: Man ist sich bewusst, dass man die Kontrolle nicht allein durch die allgegenwärtigen Polizisten und Soldaten erringen und behalten wird, die immer wieder Ausweise kontrollieren, Namen mit Listen abgleichen. Strom, Wasser, Nahrungsmittel, Schulen – damit bringe man den Durchschnittsbürger auf seine Seite, heißt es, damit erzeuge man Legitimität. »Wir haben die Expertise, wir können den Wiederaufbau stemmen und Stabilität garantieren«, sagt ein Sprecher des Informationsministeriums.
An Straßenecken kleben Flugblätter, auf denen, mit islamistischen Parolen durchsetzt, zum Widerstand gegen die »Ungläubigen«, die »Unterdrücker« aufgerufen wird, und über Nacht tauchen weitere auf. Ganz vertrieben, vollständig besiegt sind die Gegner der Regierung nicht, und deren größter Feind sind Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten: Die Waren, die allerorten angeboten werden, können sich viele nicht leisten. Und bald kommt der Winter, der auch hier stets kalt ist. »Die Leute hier sind nicht mehr wählerisch«, sagt Jamil, »sie folgen dem, der das meiste anbietet.«
Vor den Moscheen, den Kirchen in dieser immer noch multikulturellen Stadt stehen die Menschen Schlange. Die Gemeinden haben Suppenküchen organisiert, vermitteln Hilfen bei der Instandsetzung von Wohnungen, verteilen Kleidung und Hausrat. Die Stimmung ist oft bemerkenswert ausgelassen, auch wenn sich viele abwenden, wenn Ausländer hinzukommen: »Die Menschen hier sind sehr stolz«, sagt Elias Adass, ein syrisch-maronitischer Priester, dessen Kirche von einer Islamistengruppe zerstört wurde. »Man lässt sich nicht gerne als Bittsteller sehen.« Auch er will lieber über Positives sprechen: »In anderen Städten, die so etwas durchgemacht haben, würden sich die Menschen misstrauen. Hier hilft man sich gegenseitig, egal ob man Christ oder Muslim ist. Manche Dinge ändern sich hoffentlich nie.«
»Die Leute hier sind nicht mehr wählerisch. Sie folgen dem, der das meiste anbietet.« Dr. Riad Jamil, syrischer Arzt in Aleppo