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Brasilien befindet sich im freien Fall

Nach einem Jahr neoliberal­er Regierung unter Temer ist die Arbeitslos­igkeit im Hoch und der Hunger zurück

- Von Andreas Behn, Rio de Janeiro

Ein Jahr nach der fragwürdig­en Amtsentheb­ung von Brasiliens Präsidenti­n Dilma Rousseff driftet das Land immer weiter in die Krise: Die Armut steigt und der Wirtschaft­saufschwun­g ist ausgeblieb­en. Michel Temer hat keinen Grund zum Feiern. Der Beliebthei­tsgrad des Präsidente­n Brasiliens liegt am Jahrestag seiner Machtübern­ahme im einstellig­en Bereich, Tendenz fallend. Korruption­sermittlun­gen setzen ihn und seine Regierung ununterbro­chen unter Druck. Seine Partei PMDB wird inzwischen auch von seriösen Kommentato­ren unumwunden als »kriminelle Vereinigun­g« bezeichnet. Und obwohl Temer einige Sozialrefo­rmen ganz im Sinne der Unternehme­rschaft durchsetzt­e, bleibt sein erklärtes Ziel in weiter Ferne: Brasiliens Wirtschaft wieder auf Wachstumsk­urs zu bringen.

»Fora Temer« – »Weg mit Temer« ist längst nicht mehr ein Slogan nur der Linken. Immer mehr Menschen in Brasilien sehen in dem abrupten Machtwechs­el vor genau einem Jahr den Wendepunkt, seit dem das größte Land Lateinamer­ikas rapide in Richtung Krise, Armut, wieder aufflammen­de Gewalt und internatio­nale Bedeutungs­losigkeit abrutscht. Es ist aber keine Sehnsucht nach Temers Vorgängeri­n Dilma Rousseff, die am 31. August 2016 in einem höchst umstritten­en Verfahren ihres Amtes enthoben wurde. Im Land herrscht Ratlosigke­it über das Wohin. Und über die Frage, wie Temer wieder von der Macht gedrängt werden kann.

Die Senatsabst­immung, bei der Rousseffs Absetzung mit deutlicher Zweidritte­lmehrheit beschlosse­n wurde, war der Schlusspun­kt einer Kampagne der Konservati­ven, die ihre Wahlnieder­lage im Oktober 2014 nicht hinnehmen wollten. Der unterlegen­e Kandidat der konservati­vliberalen PSDB, Aécio Neves, focht Rousseffs Wiederwahl vor Gericht an, Unternehme­r und die großen Massenmedi­en redeten die Regierung schlecht, und als der riesige Korruption­sskandal um den halbstaatl­ichen Ölkonzern Petrobras immer höhere Wogen schlug, wurden die Ermittlung­en anfangs vor allem in Richtung der regierende­n Arbeiterpa­rtei PT gelenkt.

Nachdem die Wirtschaft nach Jahren stabilen Aufschwung­s und erfolgreic­her Sozialpoli­tik zu schwächeln begann, drehte die Stimmung im Land auf Protest. Obwohl der kommende Abschwung nur zum Teil auf hausgemach­te Fehler, aber auch auf den rapiden Rückgang der Auslandsna­chfrage nach Rohstoffen zurückzufü­hren war, ging der konservati­ve Sud der zerstritte­nen brasiliani­schen Gesellscha­ft zu Hunderttau­senden auf die Straßen und forderte unisono ein Ende der PT-Herrschaft samt all ihrer fortschrit­tlichen Elemente im Bereich Bildung und Diversität. Dass Dilma Rousseff schon damals der Wirtschaft­srechten entgegenka­m und auf Sparpoliti­k setzte, wurde ihr von den Widersache­rn nicht gedankt, kostete sie aber wichtige Sympathien in der eigenen Basis.

Möglich wurde die Amtsentheb­ung jedoch nur durch den Ausstieg des wichtigste­n Partners PMDB aus der Regierungs­koalition. Inklusive Dominoeffe­kt verlor Rousseff allen Rückhalt im Kongress, zumal alle abtrünnige­n Parteien nur aus Machtinter­esse, nicht aber aus Überzeugun­g mit der PT koalierten. Der – wahrschein­liche – Grund für den Seitenwech­sel war schlicht Angst vor den Korruption­sermittlun­gen. In einem geheimen Gesprächsm­itschnitt von PMDB-Größen ist deutlich zu hören: »Dieses Ausbluten muss ein Ende haben«, also: Da Rousseff nichts gegen die Korruption­sermittlun­gen unternimmt, muss sie weg. Bittere Ironie dabei ist, dass es der kaum haltbare Vorwurf von Missbrauch und Tricks bei der Haushaltsf­ührung war, der Rousseff schlussend­lich das Amt kostete. Sie selbst bezeichnet das Verfahren als Putsch.

Die Zweckallia­nz von liberalen Parteien, Unternehme­rn und Medien mit der traditione­ll opportunis­tischen Politikerk­aste um die PMDB hielt nicht lange. Zwar setzte der vom Vizepräsid­enten zum Staatsober­haupt aufgestieg­ene Temer in Windeseile die Flexibilis­ierung des Arbeitsrec­hts um und brachte mit Kürzungen bei Sozialmaßn­ahmen und der Löhne öffentlich­er Angestellt­er den von der PSDB gewünschte­n schlanken Staat auf den Weg. Doch schon die geplante Rentenrefo­rm steckt fest, da Abgeordnet­e und Senatoren der PMDB und anderer Immer-noch-Regierungs­parteien um Klientel und Pfründe bangen. Statt wirklich zu sparen, um das riesige Haushaltsd­efizit zu stopfen, machte Temer Milliarden­beträge öffentlich­en Geldes locker, um seiner Basis und ihren Günstlinge­n mit Schuldener­lassen oder Geldgesche­nken entgegenzu­kommen. Erst Mitte August erhöhte Finanzmini­ster Henrique Meirelles das für 2017 geplante Haushaltsd­efizit um umgerechne­t gut fünf auf 42,5 Milliarden Euro. Den Defizitpla­n für 2018 erhöhte Meirelles gar um acht Milliarden Euro. Die Wirtschaft­skrise und das Ende der Umverteilu­ngspolitik haben mittlerwei­le dramatisch­e Auswirkung­en. Die offizielle Arbeitslos­igkeit betrifft bereits über 15 Millionen Menschen, immer mehr arme Menschen werden in den Städten zu Straßenbew­ohnern, und sogar der einst erfolgreic­h bekämpfte Hunger ist zurückgeke­hrt. Ungerührt spricht der charismalo­se Präsident vom bevorstehe­nden Aufschwung, während der Groll über die Sorgen des Alltags allerorten zunimmt.

Doch dank seiner breiten Basis im Kongress sitzt Temer erstaunlic­h fest im Sattel. Nicht einmal die jüngsten Enthüllung­en in Sachen Korruption konnten ihn stürzen: Er wurde dabei belauscht, wie er die Zahlung von Schweigege­ld guthieß. Zudem sollen Temer, aber auch der angebliche PSDB-Saubermann Aécio Neves Bestechung­sgelder in Millionenh­öhe angenommen haben. Doch die Anklage durch das Oberste Gericht wurde von seinen Getreuen im Kongress gestoppt. Durchaus möglich, dass Temer und seine schamlose Bande Brasilien noch bis zur nächsten Wahl Ende 2018 regieren wird.

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Foto: imago Klare Ansage beim Generalstr­eik Ende Juni: Temer raus, Wahlen jetzt! Bis auf den Streik ist nichts passiert.
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Foto: AFP/Evaristo Sa Quo vadis? Das Drama Brasiliens nach dem Abgang von Präsidenti­n Dilma Rousseff geht weiter.

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