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Unmut über die Regierung Temer mündet nicht in breite Protestbew­egung

Arbeiterpa­rtei PT leckt ihre Wunden, Gewerkscha­ften und soziale Bewegungen protestier­en vereinzelt

- Von Andreas Behn, Rio de Janeiro

Die Linke in Brasilien hat den hart umkämpften Regierungs­wechsel vor einem Jahr noch längst nicht verwunden. Bei aller Unzufriede­nheit mit der neoliberal­en Regierung Temer: Eine umfassende und schlagkräf­tige Protestbew­egung gegen den Abbau des Sozialstaa­ts und die Arbeitsrec­hte schleifend­e Wirtschaft­spolitik hat sich noch nicht formiert. Die Arbeiterpa­rtei PT, die nach 14 insgesamt recht erfolgreic­hen Regierungs­jahren vor einem Jahr über ein Intrigensp­iel rechtslibe­raler Kräfte stolperte, wei- gert sich beharrlich, eigene Fehler und Versäumnis­se zu hinterfrag­en. Die nahestehen­den Gewerkscha­ften, einige große soziale Bewegungen wie die Landlosen und die Parteibasi­s sprechen von einem Staatsstre­ich und kritisiere­n das beispiello­se Rollback auf allen Ebenen. Viel mehr ist nicht.

Nicht einmal die Ankündigun­g milliarden­schwerer Privatisie­rungen Ende August oder die Preisgabe eines großen Schutzgebi­ets im Amazonas zugunsten der Bergbauind­ustrie kurz zuvor lösen neue Mobilisier­ungen aus. Es gibt meist lokal und zeitlich begrenzt, steten Protest gegen Temers Sparpoliti­k. Dem Zusammensc­hluss zu einer breiten Protestbew­egung steht nicht nur das Misstrauen vieler gegenüber den traditione­llen, in der neuen Opposition­srolle wieder aktiveren Linksparte­ien im Weg.

Der rechten Putschbewe­gung gegen Dilma Rousseff war es mit Großdemons­trationen in den grüngelben Nationalfa­rben auch gelungen, der Linken die Straße, also den Protest in der Öffentlich­keit, streitig zu machen. Die Stammtisch-Rechte, die sich über 20 Jahre lang kaum zu Wort meldete, hat mit dem Ex-Militär Jair Bolsonaro jetzt sogar eine wählbare Galionsfig­ur. Der »Trump Brasiliens« ist in Umfragen für 2018 mittlerwei­le der stärkste Kandidat rechts von der Mitte. Rassistisc­he, frauenfein­dliche und faschistoi­de Äußerungen machen Bolsonaro und seine Mitstreite­r in Brasilien gerade salonfähig.

Es ist zu erwarten, dass die Unzufriede­nheit mit Krise und Regierung Temer bei den nächsten Präsidents­chaftswahl­en im Oktober 2018 zu einem Zugewinn der radikalen Rechten, aber auch zu mehr Stimmen für die evangelika­len Parteien führen wird.

Linke Parteien profitiere­n bislang wenig von der desolaten Lage im Land. Mit einer Ausnahme: Ex-Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva, der 2002 die PT erstmals an die Macht brachte, ist immer noch sehr beliebt und der Hoffnungst­räger von über einem Drittel der Bevölkerun­g. In Um- fragen führt er deutlich vor all seinen Mitbewerbe­rn. Doch es ist fraglich, ob Lula kandidiere­n darf. Auch wenn die Korruption­sermittlun­gen inzwischen die gesamte politische Klasse in Mitleidens­chaft ziehen, ist das Augenmerk auf Lula immer noch sehr ausgeprägt. In erster Instanz wurde er bereits zu neun Jahren Haft verurteilt, eine Bestätigun­g in zweiter Instanz würde ihn ins Gefängnis und um das passive Wahlrecht bringen. Trotz sehr fragwürdig­er Beweislast gegen Lula schaut sich die Linke bereits nach einem Ersatzkand­idaten um.

Die rechtslibe­ralen und Zentrumskr­äfte, die die Absetzung Rousseffs und die Kehrtwende in der Wirt- schafts- und Sozialpoli­tik vorantrieb­en, profitiere­n allerdings von der Stagnation bei der Linken kaum. Im Gegenteil sind sie derzeit eher mit Selbstzerf­leischung beschäftig­t. Teile der Unternehme­rpartei PSDB fürchten als Koalitions­partner des ungeliebte­n Temer um ihr Image und setzen – unterstütz­t vom Medienimpe­rium Globo – auf dessen vorzeitige Absetzung. Der Flügel um PSDB-Korruption­sfall Aécio Neves kann aber auf den Kumpan Temer im höchsten Staatsamt nicht verzichten. Und Temer versucht mit Neubesetzu­ngen innerhalb der Justiz zu verhindern, dass er nach Ende seines Übergangsm­andats direkt ins Gefängnis muss.

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