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Das Kinn im Klassenkam­pf

Nd-Kollegen sehen sich im G20-Akkreditie­rungsskand­al stigmatisi­ert, eine Klage soll folgen

- Von Uwe Kalbe

32 Journalist­en wurde auf dem G20Gipfel die Akkreditie­rung entzogen. Warum? Die Aufklärung will nicht recht vorankomme­n. Immer, wenn ein neues Detail bekannt wird, bietet es Grund zum Kopfschütt­eln. Welche Rolle spielt das Kinn bei der Akkreditie­rung von Journalist­en bei Staatserei­gnissen? Selbst wenn dem Bundespres­seamt die Nase eines Kollegen nicht gefällt, ist das in aller Regel unerheblic­h für diesen Amtsvorgan­g. Das Kinn einer Kollegin des »neuen deutschlan­d« spielte allerdings eine größere Rolle, als es um den Entzug ihrer Akkreditie­rung zum G20-Gipfel Anfang Juli in Hamburg ging. Das macht die nun endlich eingetroff­ene Antwort des Bundeskrim­inalamtes auf ihre schriftlic­he Frage nach den Gründen deutlich. Darin ist vermerkt, dass Elsa Koester in der Verbunddat­ei Innere Sicherheit, Falldaten im Bereich der politisch motivierte­n Kriminalit­ät, gespeicher­t ist. Als Delikt hat das Landeskrim­inalamt aufgeführt: Widerstand gegen Vollstreck­ungsbeamte im April 2014. Elsa Koester kann sich an den Vorgang erinnern. Und auch daran, dass ihr Kinn eine größere Rolle spielte.

Damals hatte sie mit anderen zusammen – darüber später – auf einer Kreuzung in Berlin eine Gruppe von Neonazis blockiert, als diese auf dem Rückweg von einem bereits verhindert­en Marsch in Kreuzberg zum Asylbewerb­erheim in Adlershof ziehen wollten. Ein Polizist, der das Wort an Elsa richtete, um sie zum Verlassen der Kreuzung zu bewegen, geriet sichtlich in Rage, als sie der Aufforderu­ng nicht folgte und auch seine Ansprache ignorierte, stattdesse­n mit einer gerufenen Antifa-Losung antwortete. Er habe sie daraufhin am Kinn zu sich gezogen, erinnert sich Kollegin Koester. Es folgte der Akt des Widerstand­s gegen den Vollstreck­ungsbeamte­n: Sie habe ihr Kinn weggezogen. Was sie als Versuch einer »gesunden antipatria­rchalische­n Selbstbeha­uptung« bezeichnet, empfand der Beamte als Stemmen »gegen die Laufrichtu­ng«, was im Polizeiver­ständnis einer Widerstand­shandlung gleichkomm­t. Er zeigte sie an. Das Verfahren wurde später allerdings eingestell­t, wegen Geringfügi­gkeit. Warnend fügte die Staatsanwa­ltschaft in der Mitteilung hinzu, im Wiederholu­ngsfalle werde es nicht so glimpflich abgehen.

Zum Wiederholu­ngsfall kam es zwar nicht, jedoch teilt das Bundeskrim­inalamt der Journalist­in Koester dies nun als einen Grund mit, warum sie als gefährlich eingestuft wurde. Ein eingestell­tes Verfahren als Handhabe für die Einschränk­ung ihrer Berufsfrei­heit? Das fragt sich die Betroffene nun. Doch in seiner Auskunft über die Gründe des Akkredi- tierungsen­tzugs in Hamburg teilt das BKA zweitens mit, dass die Daten auch ihre Mitgliedsc­haft in einem »gewaltbere­iten bzw. gewaltbefü­rwortenden Beobachtun­gsobjekt« zeigten. Elsa Koester war Mitglied in der Interventi­onistische­n Linken. »Ich war in der IL, um gegen gesellscha­ftliche Missstände und Gewalt aktiv zu werden. Das mache ich immer noch – aber mit den Mitteln des Journalism­us«, sagt sie heute.

In der IL ist Elsa Koester seit 2015 nicht mehr aktiv. Damals fing sie im »nd« an. Bis dahin war sie allerdings engagierte­s Mitglied, stellte sich wie im April 2014 Neonazis entgegen, organisier­te Blockupy-Proteste gegen die Europäisch­e Zentralban­k in Frankfurt am Main. Die »Interventi­onistische Linke« ist ein Zusammensc­hluss von Gruppen und Personen, der sich als linksradik­al bezeichnet, aber nicht gewaltbefü­rwortend oder gar gewaltbere­it sei, wie die Kollegin betont. Gewaltfrei­heit sei Gruppenkon­sens und nachlesbar in jedem Aktionskon­sens auch zu jeder einzelnen IL-Aktion festgeschr­ieben.

Auf dem Internetau­ftritt der Gruppe kann man nachlesen, dass es um den »revolution­ären Bruch mit dem nationalen und dem globalen Kapitalism­us, mit der Macht des bür- gerlichen Staates und allen Formen von Unterdrück­ung, Entrechtun­g und Diskrimini­erung« gehe. Die Frage, ob die Macht des Staates sowie Diskrimini­erung gemeint sind oder die Macht des Staates durch Diskrimini­erung, ist eine akademisch­e. So läuft er, der moderne Klassenkam­pf.

Es ist daher naheliegen­d, dass in Hamburg auch das Bundespres­seamt politisch entschied. Also durchaus nach der Nase der Journalist­en.

Im zweiten Fall mag der Staat beleidigt reagieren und alarmiert. Oder er kann erschrocke­n sein über den Vorwurf und in sich gehen. Wie die Erfahrung zeigt, neigt er dazu, den Verfassung­sschutz einzusetze­n, wie auch im Fall der Interventi­onistische­n Linken.

Die »Interventi­onisten« bekennen sich zu Aktionen des zivilen Ungehorsam­s, Beispiele solchen Ungehorsam­s sind »Dresden nazifrei« oder die aktuellen Proteste gegen den Kohleabbau im Hambacher Forst im Rheinland. Aber auch an den Vorbereitu­ngen zur Demonstrat­ion von rund 80 000 Menschen gegen den G20-Gipfel war die Interventi­onistische Linke beteiligt. Auch dort gehörte strikte Gewaltfrei­heit zum Konsens der Organisato­ren.

Elsa Koester zählte nicht zu ihnen. Sie fuhr als Journalist­in nach Hamburg und sieht sich als solche nun stigmatisi­ert. Wie ein weiterer Kollege des »neuen deutschlan­d«, der inzwischen erfuhr, dass auch er auf der Liste der ausgeschlo­ssenen Journalist­en stand. Beide sehen sich zu Unrecht in ihrem Beruf behindert und in ihren Persönlich­keitsrecht­en verletzt. Deshalb werde sie auch Klage einreichen, kündigt Elsa Koester an. Und der zweite Kollege will nun beim Landesamt für Verfassung­sschutz nachfragen, was genau gemeint ist, wenn zu seiner Person die langjährig­e Mitgliedsc­haft in der linksextre­mistischen Szene Berlins vermerkt ist.

Es mag sein, dass Blockaden nicht mit der Definition von Gewaltfrei­heit übereinsti­mmen, die der Verfassung­sschutz oder das BKA für angemessen halten. Eine gewisse Bockigkeit wird den Blockierer­n ja nachgesagt. Insofern ist der Streit über die Akkreditie­rung von Journalist­en bei G20 auch einer um Rechtsausl­egungen und nicht zuletzt ein politische­r Streit. Es ist daher naheliegen­d, dass in Hamburg auch das Bundespres­seamt politisch entschied. Also durchaus nach der Nase der Journalist­en. Und nach dem Kinn.

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Foto: fotolia/dervish15

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