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Adalet – Gerechtigk­eit ist die CHP-Losung

Die türkische Opposition­spartei will die Unzufriede­nen sammeln / Viertägige­r Kongress beendet

- Von Jan Keetman

Die opposition­elle CHP formiert sich für »Gerechtigk­eit« und unter Berufung auf Staatsgrün­der Atatürk gegen die heutige türkische Regierung. »Wir machen einen Gerechtigk­eitskongre­ss – denn wir wollen leben wie ein Baum alleine und frei, wie ein Wald in Brüderlich­keit.« Mit diesen Worten des kommunisti­schen Dichters Nazim Hikmet hatte Kemal Kilicdarog­lu dem am Dienstag beendeten »Gerechtigk­eitskongre­ss« in Canakkale die Richtung vorgegeben.

Nach dem Erfolg seines Marsches für Gerechtigk­eit von Ankara nach Istanbul hat der Vorsitzend­e der opposition­ellen Republikan­ischen Volksparte­i (CHP) »Gerechtigk­eit« offenbar auch als programmat­ische Losung der Opposition gewählt. Zur Parlaments- und Präsidents­chaftswahl 2019 könnten sich hinter ihr die Unzufriede­nen aus manchen Teilen der Gesellscha­ft sammeln.

Auf verschiede­nen Foren wurde während des viertägige­n Kongresses über all die Gebiete gesprochen, auf denen es mit der Gerechtigk­eit hapert: Gerechtigk­eit vor Gericht, Gerechtigk­eit bei Wahlen, Gerechtigk­eit beim Einkommen, Gerechtigk­eit im Staat, Gerechtigk­eit bei der Ausbildung usw. Selbst Gerechtigk­eit in der Religion wurde diskutiert.

Gekommen waren ungefähr 10 000 Menschen, darunter nicht nur Stammwähle­r der CHP, wie etwa der Altlinke und pensionier­te Lehrer Ramazan Cavdar. Er erinnert daran, dass es auch früher schon Ungerechti­gkeit gab und die CHP damit leben konnte. Nun hat es seine Tochter getroffen. Sie ist Physikerin, spricht vier Sprachen, arbeitete an der Technische­n Universitä­t in Istanbul. Doch dann unterschri­eb sie einen Friedensap­pell, wurde entlassen und ausstehend­er Lohn wurde beschlagna­hmt. Nun lebt sie in Großbritan­nien und kann nicht mehr in die Türkei zurück.

Es fehlte nicht an berechtigt­er Kritik am Regierungs­lager. Zum Beispiel sagte Professor Ersin Kolayciogl­u auf dem Panel Gerechtigk­eit bei Wahlen, dass man nicht von einer freien Entscheidu­ng der Wähler sprechen könne, wenn es keine Freiheit der Informatio­n gebe. Ein Zuhörer wandte ein, die Opposition hätte beim Referendum ja offenbar gewonnen, aber die Hohe Wahlkommis­sion habe die Verfälschu­ng des Ergebnisse­s zugelassen. Was helfe da die beste Opposition?

Die Ägäisküste, an der Canakkale liegt, ist eine Hochburg der CHP, und es gibt einen historisch­en Anknüpfung­spunkt, auf den Kilicdarog­lu bei der Eröffnung am Samstag ausführlic­h einging: Mustafa Kemal Atatürk, der sowohl die laizistisc­he Republik wie die CHP gegründet hat, tat sich im Ersten Weltkrieg bei Canakkale, genauer gesagt gegenüber auf der anderen Seite des Hellespont­s in der Schlacht von Galipoli, als Kriegsheld hervor.

Die Erinnerung an Atatürk eint im Moment wohl wieder mehr Menschen in der Türkei, aber keineswegs alle. Im Andenken an Atatürk findet sich viel Nostalgie, weil es um einen Kongress der CHP geht. Man scheint noch nicht so ganz im Hier und Heute angekommen zu sein. Bezeichnen­derweise waren Frauengrup­pen zwar vertreten, aber ein eigenes Thema wie »Gerechtigk­eit bei den Geschlecht­ern« fehlte. Wenn zudem alle von Ungerechti­gkeit betroffene­n Menschen gesammelt werden sollen, dürften auch die Kurden kaum fehlen. Das schöne Canakkale ist eben sehr weit weg von ihren verwüstete­n Städten im staubigen Südosten.

Damit trifft sich in Canakkale zum großen Teil doch wieder eine Türkei, die alleine dem Staatschef Recep Tayyip Erdoğan nie gefährlich werden kann. Dieser spottete denn auch, dass man in Canakkale, an den »Gräbern der Märtyrer« des Ersten Weltkriege­s doch nur diskutiere­n würde, ob man Wodka, Wein oder Bier trinken solle. Angesichts des Zustandes der türkischen Medien dringt ohnehin nur wenig von dem, was in Canakkale gesprochen wird, nach Anatolien. Dort feiert Erdoğan den Sieg in der Schlacht von Malazgirt 1071. Da war kein Atatürk dabei.

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Foto: AFP/Ozan Kose Kemal Kilicdarog­lu (L.) auf dem Weg für Gerechtigk­eit – Adalet.

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