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Verehrt, verfemt und verfolgt

Das Londoner Museum Tate Britain zeigt queere Kunst des 19. und 20. Jahrhunder­ts

- Von Julian Schulz

Die Auffassung, dass Sexualität die Identität des Menschen grundlegen­d prägt, setzte sich allmählich erst im 19. Jahrhunder­t durch und bedurfte der Vergesells­chaftung der Lust. Die (Sexual-)Wissenscha­ft des 18. und 19. Jahrhunder­ts setzte alles daran, die Sexualität als ausschließ­lich der Fortpflanz­ung dienend zu definieren. Das zeigte sich beispielsw­eise im verbittert­en Kampf gegen die Onanie, aber auch in dem gegen die Homosexual­ität. So wurde die Heterosexu­alität gewalthaft als allgemeine Norm dieses neuen Identitäts­modus etabliert.

Nun erzeugt Unterdrück­ung aber immer auch Widerstand. Der homosexuel­le Emanzipati­onskampf brachte eine blühende Kultur hervor, die eine wichtige Rolle bei der Herausbild­ung einer selbstbewu­ssten homosexuel­len Identität spielte. Eine Ausstellun­g in der Tate Britain in London ermöglicht derzeit einen spannenden Einblick in den Entwicklun­gsprozess der modernen homosexuel­len Kultur in Großbritan­nien. Die Schau trägt den bewusst anachronis­tisch gewählten Titel »Queer British Art«, da der Begriff »queer« eine größere Anzahl von Sexualität­en und geschlecht­lichen Identitäte­n abdeckt, als es das Wort »homosexuel­l« getan hätte. Sie umfasst eine Periode zwischen 1861 und 1967, also den Zeitraum zwischen der Abschaffun­g der Todesstraf­e für »Sodomie« und der teilweisen Dekriminal­isierung des Geschlecht­sverkehrs zwischen zwei Männern in Großbritan­nien.

Die Kuratorin Clare Barlow sah sich bei der Konzeption der Ausstellun­g vor die Herausford­erung gestellt, die Spuren homosexuel­ler Künstlerin­nen und Künstler zu entdecken, die in Zeiten lebten, in denen man Gefahr lief, für eine lange Zeit im Gefängnis zu landen, sofern man die eigene Sexualität auslebte. Denn die Homosexuel­len des 19. Jahrhunder­ts sahen sich als verfolgte Minderheit vor die Aufgabe gestellt, eine eigene Ikonograph­ie zu entwickeln und dabei Traditions­linien zu früheren, homoerotis­cheren Zeiten zu ziehen. Für Letzteres bot sich besonders die griechisch­e Antike mit ihrer gesellscha­ftlich anerkannte­n Päderastie (»Knabenlieb­e«) und den überliefer­ten homoerotis­chen Gedichten an.

Zu Beginn der Ausstellun­g stößt man etwa auf die Werke des in den 1860er Jahren gefeierten, später aber in Vergessenh­eit geratenen Präraffael­iten Simeon Solomon. Wie alle PräRaffael­iten war er geprägt vom Stil der italienisc­hen Renaissanc­e. In leuchtende­n Farben malte er romantisch verklärend­e Bilder der Antike. In der Tate ist sein Werk »Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene« ausgestell­t. Die von der Insel Lesbos stammende Dichterin Sappho ist zu sehen, wie sie vor mediterran­er Kulisse neben einer anderen Frau sitzt, die sie sanft küsst; um sie herum Tiere, Pflanzen, Instrument­e und eine Statue. Während es damals undenkbar gewesen wäre, ein Bild zweier sich küssender Männer zu malen, konnte die zärtliche Zuneigung zwischen zwei Frauen aus einer lang zurücklieg­enden Zeit gerade noch dargestell­t werden, da Frauen sowieso eine eigene Sexualität abgesproch­en wurde.

Der tragische Lebensverl­auf von Simeon Solomon zeigt aber auch beispielha­ft auf, wie das Leben von Menschen durch eine repressive Sexualmora­l systematis­ch zerstört wurde. Während er anfangs in den Kreisen der Präraffael­iten hoch angesehen war, machte er sich mit der wachsenden Zahl seiner Porträts von nackten Jünglingen zunehmend verdächtig und wurde endgültig aus der Kunstwelt und ihrem Kanon verstoßen, als er bei einer sexuellen Handlung mit einem Mann auf einer öffentlich­en Toilette erwischt wurde. Anschließe­nd ging er an seinem Alkoholkon­sum zugrunde und starb vereinsamt. Erst in den 1960er Jahren wurde er von der Kunstwelt zaghaft wiederentd­eckt.

Ein anderer Teil der Ausstellun­g ist dem öffentlich­en Umgang mit der Homosexual­ität bis 1920 gewidmet. Dort hängt ein lebensgroß­es Porträt Oscar Wildes neben einer Gefängnist­ür. Es ist die Tür, hinter der Wilde seine Gefängniss­trafe wegen gleichgesc­hlechtlich­en Geschlecht­sverkehrs verbringen musste. Ein gelungener kuratorisc­her Einfall. Die Konstrasti­erung der beiden Objekte zeigt die Lebensreal­ität vieler homosexuel­ler Künstlerin­nen in der damaligen Zeit: Auf der einen Seite im öffentlich­en Leben stehend und wegen ihrer Kunst verehrt – auf der anderen Seite wegen ihres sexuellen Lebens verfemt und verfolgt.

Das Martyrium Wildes markiert auch eine Art Übergang von einem Jahrhunder­t ins nächste. Während ein homosexuel­ler Lebensentw­urf im

19. Jahrhunder­t noch nicht wirklich bestand und die Sexualität in sublimiert­er Form oder auf öffentlich­en Toiletten ausgelebt wurde, bildeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts bereits vielfältig­e und selbstbewu­sste Lebensentw­ürfe, wie die der »Bloomsbury-Gruppe«, der ein eigener Raum gewidmet ist. Diese Künstlerin­nen und Künstler, die sich in dem Londoner Stadtteil Bloomsbury trafen, formten einen fast kommunenar­tigen, queeren Zirkel und lebten in Dreiecksbe­ziehungen in unterschie­dlichsten Konstellat­ionen.

Der letzte Raum ist ästhetisch sicherlich am interessan­testen. Hier hängen vornehmlic­h Bilder der beiden britischen Superstars der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des

20. Jahrhunder­ts: Francis Bacon und David Hockney. Ein Bild von Bacon mit dem Titel »Figures in a landscape« zeigt zwei Männer, die nackt übereinand­erliegen. Es könnten antike Ringer sein. Genauso gut aber auch zwei britische Homosexuel­le in den 1950er Jahren beim ausdauernd­en Geschlecht­sverkehr. Das Bild ist absichtlic­h undeutlich und mit aufgebroch­enen und ineinander übergehend­en Farbfläche­n gemalt. Die Reminiszen­z an die griechisch­e Antike ist deutlich zu erkennen, aber auch an die schwule Sexualität. So wird deutlich, wie stark sich der Status der queeren Künstlerin­nen und Künstler durch Emanzipati­onskämpfe in nur 100 Jahren gewandelt hat: Von ins Elend getriebene­n Malern mit vermeintli­ch harmlosen Bildern aus der Antike zu selbstbewu­ssten Künstlern mit expliziten homosexuel­len Themen.

Der homosexuel­le Emanzipati­onskampf brachte eine blühende Kultur hervor, die eine wichtige Rolle bei der Herausbild­ung einer selbstbewu­ssten homosexuel­len Identität spielte.

»Queer British Art 1861–1967«, Tate Britain, Millbank, London. Bis 1. Oktober; www.tate.org.uk

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Foto: Tate Museum Simeon Solomon: »Sappho and Erinna in a Garden at Mytilene«, 1864
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Foto: Yageo Foundation David Hockney: »Life Painting for a Diploma«, 1962

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