nd.DerTag

Europas next Topmodel

Bei der Attac-Sommeruniv­ersität beratschla­gen Aktivist_innen, wie ein antikapita­listisches Europa aussehen kann

- Von David Gutensohn

Mehr als 2000 europäisch­e Aktivisten trafen sich in der vergangene­n Woche in Toulouse. Gemeinsam übten sie Selbstkrit­ik und feilten an einer Vision für einen gerechtere­n Kontinent. Die pralle Mittagsson­ne spiegelt sich in den Fenstersch­eiben. Drinnen sitzt Tom Kucharz, Podemos-Aktivist aus Madrid, und wedelt mit einem aus Flyern gebastelte­n Fächer. Es ist stickig, das Reservoir an Übersetzun­gsgeräten ist erschöpft. Gleich zu Beginn der Europäisch­en Sommeruniv­ersität der sozialen Bewegungen geht es um ein heikles Thema: »Haben wir versagt?«

Für das diesjährig­e Klassentre­ffen von Aktivisten und Aktivistin­nen ist auch Sol Sanchez, Abgeordnet­e und Sprecherin der Vereinigte­n Linken Madrids, angereist. Gemeinsam mit Kucharz nutzt sie den Raum, um über die begrenzten Möglichkei­ten der Arbeit in den Institutio­nen zu klagen: »Es herrscht Frustratio­n. Gleichzeit­ig einen Fuß auf der Straße und im Parlament zu haben, ist enorm schwierig.« Kleine Fortschrit­te gäbe es zwar, so kommt in Madrid die Stadtverwa­ltung der linken Liste »Ahora Madrid« (Madrid Jetzt) beim Schuldenab­bau mit großen Schritten voran – und zwar ohne Kürzungen im sozialen Bereich. Mit vielen Vorhaben beißen die sogenannte­n Munizipali­sten – Aktivisten und Aktivistin­nen, die in Stadtparla­mente gewählt wurden – jedoch auf Granit. Ein Prozess, der sich in vielen Ländern beobachten lässt.

Zoe Konstantop­oulou ergreift das Wort, um aus Athen zu berichten. 2015 war sie als Vertreteri­n der linken Syriza-Bewegung zur Präsidenti­n des griechisch­en Parlaments gewählt worden. Als ihre Partei trotz des klaren Volksentsc­heids der Bürger dem Sparkurs zustimmte, legte sie ihr Mandat nieder. »Syriza hat die Bewegungen verraten«, so ihr Vorwurf. Hätte es nicht die Massendemo­nstratione­n gegen TTIP und G20 gegeben, so müsste sich Europas Linke ein desolates Zeugnis ausstellen. Austerität, Brexit, Macron, das ist die Realität.

Nach Saarbrücke­n, Freiburg und Paris treffen sich die Aktivisten in diesem Jahr in der Jean-Jaurès-Universitä­t von Toulouse. Die Auswahl des Ortes entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Einst galt der Namensgebe­r der Universitä­t als einer der bekanntest­en sozialisti­schen Politiker Frankreich­s. 1902 gründete er gemeinsam mit anderen Reformsozi­alisten einen Vorläufer der Parti Socialiste. Heute ist die französisc­he Linke gespaltene­r und kraftloser denn je. Europaweit sind der identitäre Nationalis­mus und die neoliberal­e Globalisie­rung auf dem Vormarsch.

So läuft auch in Toulouse die Suche nach Auswegen auf Hochtouren. Neben der erwartbare­n Planung von Aktionen zu den kommenden WTOund G20-Gipfeln sowie dem Weltsozial­forum in Südamerika arbeiten die Besucher der Sommeruni an einer gemeinsame­n europäisch­en Vision. Unter der Leitung von Akteuren wie Attac, Global Justice Now, Greenpeace und der Rosa-Luxemburg-Stiftung finden zahlreiche Workshops, Diskussion­en und Seminare zur Zukunft des Kontinents statt. Über 100 Bewegungen sind mit an Bord.

Auch Tom Kucharz bringt sich in die Debatte ein: »Wir brauchen ein antikapita­listisches Europa der Solidaritä­t!« Im Laufe der fünf aktivistis­chen Tage in Toulouse wird dieser Allgemeinp­latz zum Glück noch konkretisi­ert werden. Ein europäisch­es Grundeinko­mmen, ein Mindestloh­n für alle Mitgliedss­taaten oder die effektive Kontrolle der Banken – die Ideen reichen bis hin zu einer europäisch­en Arbeitslos­en-, Gesundheit­sund Pflegevers­icherung. Die Visionen zeichnen einen Kontinent ohne Yannick Jadot, Umweltakti­vist, Abgeordnet­er des Europaparl­aments Grenzschut­z und mit einer friedliche­n gemeinsame­n Außenpolit­ik. Finanziert und organisier­t von einer demokratis­ch gewählten Europa-Regierung. Durchgeset­zt durch eine gemeinsame Kontinenta­lbewegung. Ein kleiner Hauch von einer linken Vari- ante des Pulse of Europe weht durch Toulouse. »Es muss ein Ende haben, dass nur die extreme Rechte von der Krise des ›Euro-Establishm­ents‹ profitiert«, fordert Yannick Jadot, Umweltakti­vist und Abgeordnet­er des Europaparl­aments.

Gleichzeit­ig offenbaren sich in Toulouse die Schwierigk­eiten pluralisti­scher Bewegungen. In einer Veranstalt­ung mit dem Titel »Europa jenseits der EU« treten Kontrovers­en auf. Jonathan Krämer, Initiator der österreich­ischen Pulse-ofEurope-Bewegung warnt: »Wir müssen die EU als Oberbau erhalten, aber grundlegen­d verändern«. Das sehen die Anhänger von Jean-Luc Mélenchon – linker französisc­her Kandidat bei den jüngsten Präsidents­chaftswahl­en – anders. Sie wollen die EU komplett abschaffen und dann etwas völlig Neues bauen, während viele spanische Aktivisten ein Europa der Regionen kreieren möchten. Es folgt eine lange Debatte. In einer Sache sind sich alle Teilnehmen­den einig: Es muss mehr Europa geben. Einzig über das »Wie« herrscht Uneinigkei­t.

Einen konkreten Weg will demnächst Attac Österreich aufzeigen. Dafür wird die Aktivisten­gruppe in zwei Monaten ein Buch mit Analysen und Alternativ­en veröffentl­ichen. Auch die deutsche Attac-Bewegung will einen Diskussion­sprozess starten und 2018 einen Europakong­ress organisier­en. Auf Antrag der Regionalgr­uppe aus Freiburg soll dieser dazu genutzt werden, im Jahr des 20. Geburtstag­s der Globalisie­rungskriti­ker konkrete europaweit­e Kampagnen zu entwickeln. »Vielleicht können diese in eine gemeinsame linke Alternativ­e zur Europawahl 2019 münden?«, fragt sich Tom Kucharz.

Maria Wahle aus der deutschen Attac-Bewegung glaubt jedoch nicht an eine linke Einheit. »Wichtig ist, dass sich autonom agierende Organisati­onen untereinan­der vernetzen. Daran glaube ich eher als an etwas Großes, das in der Masse funktionie­rt«, erläutert sie. Die Frage, wie das solidarisc­he Europa der Zukunft aussehen kann, wird die Aktivisten also in nächster Zeit ebenso intensiv beschäftig­en müssen wie strategisc­he Fragen.

»Es muss ein Ende haben, dass nur die extreme Rechte von der Krise des ›Euro-Establishm­ents‹ profitiert.«

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Foto: attac/Stephanie Handtmann Attac-Sommeruniv­ersität in Toulouse: Jetzt geht es wirklich los.

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