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Boykott oder Nicht-Boykott, das ist hier die Frage

Yücel Özdemir über Erdoğans Aufruf zum Wahlboykot­t und einen Nachmittag in Köln-Mühlheim

- Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Noch eine Woche bleiben bis zu den Bundestags­wahlen. In Bezug auf türkeistäm­mige Wähler fragt sich die Öffentlich­keit vor allem, inwieweit wohl Recep Erdoğans Aufruf zum Wahlboykot­t hier auf fruchtbare­n Boden fallen wird. Dabei besteht die Möglichkei­t, dass der Appell eher das Gegenteil dessen bewirkt, was der türkische Präsident bezweckt hat.

Vergangene Woche konnte man dazu ein paar Beobachtun­gen bei einer Wahlkampfv­eranstaltu­ng der Linksparte­i im Köln-Mülheim machen, einem der Kölner Stadtteile mit dem höchsten Anteil an Einwandere­rn aus der Türkei. Unter den Teilnehmer­n waren nicht wenige Türkeistäm­mige. Die Föderation der Demokratis­chen Arbeiterve­reine (DİDF) forderte mit auf türkisch verfasstem Material an ihrem Stand dazu auf, sich an den Wahlen zu beteiligen – und für die Linksparte­i zu stimmen. Einige der Türkeistäm­migen, die zu dem Stand kamen, sagten: »Wir werden jetzt erst recht wählen.« Die Wahlbeteil­igung unter den Erdoğan-Gegnern scheint eher noch zuzunehmen.

Was aber werden die konservati­ven Türkeistäm­migen tun, die Erdoğan zu beeinfluss­en versucht? Organisati­onen, die diese Wählerschi­chten ansprechen, forderten in den vergangene­n Jahren stets dazu auf, wählen zu gehen. Statt dabei offen eine Partei zu unterstütz­en, empfahlen sie, die Entscheidu­ng von Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«.

bestimmten Kriterien abhängig zu machen. Wenn man liest, was diese Organisati­onen in diesem Jahr schreiben, ist das auch weiterhin ihre Haltung. In der Septembera­usgabe ihres Magazins »Perspektiv­e« fordert zum Beispiel die islamische Bewegung Milli Görüş (IGMG) zur Teilnahme an den Wahlen auf. Dieselbe Botschaft kam von DITIB- Vorstandsm­itglied Hakan Aydın. »Wir werden unsere Gemeinscha­ft über verschiede­ne Kanäle dazu auffordern, sich an den Wahlen zu beteiligen. Es ist unser oberstes Ziel, zu erreichen, dass auch die Muslime Deutschlan­ds im Parlament repräsenti­ert werden, wie sie es verdient haben«, so Aydın.

Trotz dieser Aussagen wurde aber bis jetzt keine Wahlauffor­derung auf den Webseiten von IGMG und DITIB veröffentl­icht. Und es sieht nicht danach aus, als würde dies noch passieren. Besonders DITIB, die direkt von Ankara aus geleitet wird, kann sich wohl nicht offen gegen Erdoğans Appell stellen.

Doch zurück zur Wahlkampfv­eranstaltu­ng in Köln-Mühlheim. Die Linksparte­i will dort wissen, inwiefern ihre Forderunge­n vom Publikum unterstütz­t werden. Dafür hat sie sie an ein großes Brett gepinnt, an dem man die Forderunge­n mit »ich stimme zu« oder »ich stimme nicht zu« markieren kann. Ein guter Weg, um in Dialog mit den Wählern zu treten.

Eine Frau mittleren Alters mit Kopftuch ist mit Mann und Kind zufällig vorbeigeko­mmen. Sie steht an dem Brett und liest sich die Forderunge­n durch. Ich plaudere mit ihrem Mann. Er lebt seit 37 Jahren in Deutschlan­d, hat aber »aus verschie- denen Gründen« nicht die deutsche Staatsbürg­erschaft. Seine Frau jedoch ist deutsche Staatsbürg­erin. Mittlerwei­le sehe ich, dass sie alle angepinnte­n Forderunge­n mit »ich stimme zu« markiert hat. Diese sind bekannt: Eine Erhöhung des Mindestloh­ns und der Gehälter, höhere Renten sowie höhere Steuern für Reiche. Nachdem sie fertig ist, sage ich: »Also geben sie ihre Stimme der Linksparte­i«. Ihre Antwort ist klar: »Nein«. Dann fährt sie fort: »Aber ich werde definitiv wählen gehen. Was Erdoğan sagt, interessie­rt mich überhaupt nicht.«

Es existieren keine aussagekrä­ftigen Zahlen darüber, wie viel Prozent der konservati­ven türkeistäm­migen Wähler so denken. Aber sicher ist, dass längst nicht alle Erdoğan folgen werden.

Da Türkeistäm­mige in Deutschlan­d unterschie­dlichster Herkunft sind und verschiede­ne Weltanscha­uungen haben, resultiere­n die Gemeinsamk­eiten hier hauptsächl­ich aus ihrer Klassenzug­ehörigkeit. Wegen dieser haben sie in der Vergangenh­eit mehrheitli­ch linke Parteien gewählt – und werden es auch weiterhin tun.

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