Junckers EU-Rede
Ein Balanceakt
Der Wille, die absolute Einheit der 27 Mitgliedstaaten zu wahren, zwingt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zu einem Balanceakt. Er plädiert zwar für mehr Freihandel, befriedigt aber auch protektionistische Kräfte mit Regulierungen der Arbeitnehmermobilität und Vorschlägen zum Schutz vor ausländischen Direktinvestitionen. ... Mit solchen Manövern lassen sich die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen, politischen Ziele und nicht zuletzt Wertehaltungen in den 27 Mitgliedstaaten nur notdürftig kaschieren. Widerstand gegen Junckers Pläne ist programmiert. Anders als vor Jahresfrist ist das europäische Schiff nicht mehr akut vom Kentern bedroht. Es wird aber auch nur schwerlich vorankommen, solange 27 Steuermänner unterschiedliche Richtungen anpeilen.
Guardian, Großbritannien Eher optimistisch
Die Stimmung in der EU ist eher optimistisch. Pläne für eine tiefere Integration innerhalb der Eurozone werden ebenso in Umlauf gebracht wie Schritte zu einer verbesserten Zusammenarbeit bei der Sicherheit und der Schaffung eines gemeinsamen digitalen Marktes. Das öffentliche Vertrauen in die EU steigt wieder. Zweifellos gibt es aber dennoch Spannungen und Unsicherheiten. Aber jene, die meinten, der Brexit und Donald Trump seien Nägel im Sarg der EU, müssen nun neu nachdenken. Von Kontinentaleuropa aus betrachtet ist der Brexit nur noch ein Randereignis, der in den deutschen TV-Wahldebatten nicht einmal erwähnt wurde. Der »Trumpismus« hat geholfen, mehr Europäer davon zu überzeugen, dass sie zusammenhalten müssen, statt sich zu trennen.
de Volkskrant, Niederlande Zu weit gegangen
Der ehrgeizige Luxemburger schlägt zu, bevor eine wiedergewählte Angela Merkel und ein gestärkter Emmanuel Macron die europäische Agenda an sich ziehen können. Nach den deutschen Wahlen am 24. September wird klar, mit welchem Koalitionspartner Merkel weitermacht. Etwa zur gleichen Zeit wissen wir, ob der französische Präsi- dent die Proteste gegen seine Reformen heil überstanden hat. Wenn die Achse Paris-Berlin erneut geschmiedet wird, kann Brüssel keinen Blumentopf mehr gewinnen. Doch mit der Ankündigung einer neuen Industriepolitik, die - natürlich in der Regie von Brüssel - für »Wirtschaftswachstum und gute Jobs« sorgen soll, geht Juncker zu weit. Das gilt auch für die Eurozone. Hier wird das vernünftige Vorhaben, den EU-Notfonds zu stärken, durch ein Plädoyer für EuroAnleihen überschattet. Deutschland und auch die Niederlande dürften das als Provokation aus dem vermaledeiten Brüssel in Richtung einer Transferunion ansehen. Das ist, gelinde gesagt, unvernünftig in einer Zeit, in der Nationalismus und Populismus gedeihen.
Duma, Bulgarien Rosa Szenarien
Im Europaparlament demonstrierte Juncker einen verzweifelten Versuch, das mit voller Kraft auseinanderreißende europäische Gewebe etwas zu flicken sowie Optimismus zu verbreiten, indem er rosa Szenarien für die Zukunft entwarf. Es ist schön, dass er über die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten in Ost- und in Westeuropa nachdenkt. Damit lehnt er also eine Europäische Union der mehreren Geschwindigkeiten ab, die die EUGründerstaaten ja am heißesten begehren. Dies wollten wir hören. Die Erfahrung ist allerdings bitter. Die guten Vorhaben blieben (bislang) im Bereich der schön verpackten Versprechen. Wir warten noch immer auf konkrete Ergebnisse.
Pravda, Slowakei Bittere Früchte
Es stimmt tatsächlich, dass der Schock, der im vergangenen Jahr nach der britischen Brexit-Entscheidung die ganze EU beherrschte, auf dem Kontinent eher einer traurigen Unterhaltung über die Verrenkungen der britischen Elite gewichen ist, die bitteren Früchte der eigenen Politik zu verdauen. Das Weggehen eines bedeutenden und in jeder Hinsicht starken Mitglieds der europäischen Gemeinschaft hängt nicht mehr wie eine Unwetter verkündende Wolke über Europa. Es ist - in Junckers Worten - eine »tragische Angelegenheit«, die wir aber überstehen.