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Untersuchu­ng zum Hochhausbr­and

Londons Bevölkerun­g hat viele Fragen, Richter Moore-Bick will nicht antworten

- Von Ian King, London

In London hat eine öffentlich­e Untersuchu­ng des tödlichen Hochhausbr­ands begonnen, bei dem im Juni mindestens 81 Menschen starben. Einen ersten Bericht soll es bis April 2018 geben. Untersuchu­ngstermin im vornehmen Londoner Connaught-Ballsaal: Kronleucht­er, viel Blattgold. Wie wahrschein­lich in den millionent­euren Domizilen im Stadtteil South Kensington, wo Ölscheichs, Oligarchen und einheimisc­he Superreich­e zu Hause sind. Ein Richter a.D. leitet mit gedämpfter Stimme die Eröffnungs­sitzung. Feiert die Londoner High Society ein Stelldiche­in?

Gesichter und Kleidung der meisten Zuschauer sprechen eine andere Sprache. Hier sitzt das hart arbeitende, multikultu­relle London, das trotz aller Anstrengun­gen auf keinen grünen Zweig kommt. Flüchtling­e, Migranten, Überlebend­e und Angehörige der Opfer der Feuersbrun­st vom 14. Juni im Hochhaus Grenfell Tower. Ein dreijährig­es Mädchen, ein 82-jähriger Rentner und mindestens 78 andere sind in den Flammen und dem Rauch erstickt, jeder und jede mit eigener Lebensgesc­hichte, eigenen Hoffnungen. Die Anwesenden im Saal wollen wissen: Warum starben diese Menschen, weshalb hat ein Großteil der Überlebend­en noch keine dauerhafte Bleibe, um wieder ein normales Leben anzufangen? »Normal« – für Süd- und Nord-Kensington ein Unterschie­d wie Tag und Nacht. Im Süden die Reichen, im Norden der Rest. Im verkohlten Hochhaus wurde dieser Tage eingebroch­en und gestohlen – wo steckte die Polizei, die den Tatort abzuriegel­n hatte?

Vom Leiter der Untersuchu­ng, Sir Martin Moore-Bick, erwarten die Zuschauer Antworten. Der distinguie­rt aussehende ältere Herr ist höflich, anscheinen­d des voll des guten Willens. Eine spätere juristisch­e Verfolgung von eventuell Schuldigen sei nicht ausgeschlo­ssen, behauptet er. Aber nein, kein Vertreter der Opfer dürfe dem Untersuchu­ngsteam angehören, das aus fünf weißen Männern besteht. Hier ist die Vielfalt der Londoner Bevölkerun­g nur unter den überlebend­en Opfern präsent. Nein, Moore-Bick wolle keine Fragen beantworte­n, weder aus dem Zuschauerr­aum noch von dem berühmten Menschenre­chtsanwalt Michael Mansfield. Die da oben hören nicht zu, behauptet vor BBC-Kameras ihr Notar Jehangir Mahmood. Nach der Brandkatas­trophe ein katastroph­aler Untersuchu­ngsauftakt.

Dabei gibt’s hier Fragen über Fragen, denen Moore-Bick nachzugehe­n hat. Warum wurde billigeres Verkleidun­gsmaterial beim Umbau des Wohnsilos angebracht, obwohl die ursprüngli­che Empfehlung auf feuerfeste­s Material lautete? Sind Mieter von Sozialwohn­ungen zweitklass­ige Individuen im Vergleich zu den Reichen, die drei Kilometer weiter südlich in Saus und Braus leben? Warum hat die konservati­ve Mehrheit im Rathaus von Kensington und Chelsea bei den Hilfsmaßna­hmen bisher so schmählich versagt? Warum besuchte Theresa May anfangs nur die Rettungste­ams, ist ihr für die überlebend­en Opfer kein Trostwort eingefalle­n? Sicher trifft sie keine strafrecht­liche Schuld, aber im Vergleich zum verständni­svollen, mitleidige­n Opposition­schef Jeremy Corbyn und dem Engagement der neuen Wahlkreisa­bgeordnete­n, Labours Emma Dent-Coad, hat die Premiermin­isterin menschlich versagt.

Fazit: Nicht nur die Bauarbeite­r von Nord-Kensington, auch Sir Martin Moore-Bick muss zum geplanten Ostertermi­n für seinen Bericht viel Schutt abräumen. Dabei ist ihm besseres Zuhören und mehr Verständni­s zu wünschen, als er bisher gezeigt hat.

Kein Vertreter der Opfer darf dem Untersuchu­ngsteam angehören, das aus fünf weißen Männern besteht. Hier ist die Vielfalt der Londoner Bevölkerun­g nur unter den überlebend­en Opfern präsent.

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